
L1: Garmisch ↣ Brescia
Tom Schilling
Alpen 2023
Für meine Mutter
Impressum
Auflage September 2023
© Tom Schilling, Dresden, Deutschland
Dieses Buch ist ein Ausdruck der Webseite
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gedruckt im Selbstverlag
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Inhalt
- Vorbereitung
- Anreise
- Garmisch → Kreuzeckhaus
- Kreuzeckhaus → Reintalangerhütte
- Reintalangerhütte → Steinernes Hüttl
- Steinernes Hüttl → Wildermieming
- Landhotel Jäger → Zelt vor Stamser Alm
- Zelt vor Stamser Alm → Dortmunder Hütte
- Dortmunder Hütte → Schweinfurter Hütte
- Schweinfurter Hütte → Winnebachseehütte
- Winnebachseehütte → Amberger Hütte
- Amberger Hütte → Längenfeld → Obergurgl
- Obergurgl → Vent
- Vent → Hochjoch-Hospiz
- Hochjoch-Hospiz → Taschenjöchl
- Taschenjöchl → Schlanders
- Schlanders
- Schlanders → Berggasthof Stallwies
- Berggasthof Stallwies → Marteller Hütte
- Marteller Hütte → Peio
- Peio → Rifugio Bozzi
- Rifugio Bozzi → Temù
- Temù
- Temù → Rifugio Garibaldi
- Rifugio Garibaldi → Rifugio Gnutti
- Rifugio Gnutti → Rifugio Prudenzini
- Rifugio Prudenzini → Rifugio Lissone
- Rifugio Lissone → Rifugio Maria e Franco
- Rifugio Maria e Franco → Rifugio Tita Secchi
- Rifugio Tita Secchi → Rifugio Valdaione
- Rifugio Valdaione → Hotel Locanda Bonardi
- Hotel Locanda Bonardi → Vaghezza
- Vaghezza → Lodrino
- Lodrino → Passate Brutte
- Passate Brute → Lumezzane → Brescia
- Brescia → Bergamo
- Bergamo
- Rückflug


Download der kompletten Tour als .pdf
2023 Alpenüberquerung auf dem L1 von Garmisch nach Brescia
L 430 km, H 30.000 m, R 29.450 m, O 3355 m, U 150 m, Z 34 Tage
Inhalt
- Vorbereitung
- Anreise
- Garmisch → Kreuzeckhaus
- Kreuzeckhaus → Reintalangerhütte
- Reintalangerhütte → Steinernes Hüttl
- Steinernes Hüttl → Wildermieming
- Landhotel Jäger → Zelt vor Stamser Alm
- Zelt vor Stamser Alm → Dortmunder Hütte
- Dortmunder Hütte → Schweinfurter Hütte
- Schweinfurter Hütte → Winnebachseehütte
- Winnebachseehütte → Amberger Hütte
- Amberger Hütte → Längenfeld → Obergurgl
- Obergurgl → Vent
- Vent → Hochjoch-Hospiz
- Hochjoch-Hospiz → Taschenjöchl
- Taschenjöchl → Schlanders
- Schlanders
- Schlanders → Berggasthof Stallwies
- Berggasthof Stallwies → Marteller Hütte
- Marteller Hütte → Peio
- Peio → Rifugio Bozzi
- Rifugio Bozzi → Temù
- Temù
- Temù → Rifugio Garibaldi
- Rifugio Garibaldi → Rifugio Gnutti
- Rifugio Gnutti → Rifugio Prudenzini
- Rifugio Prudenzini → Rifugio Lissone
- Rifugio Lissone → Rifugio Maria e Franco
- Rifugio Maria e Franco → Rifugio Tita Secchi
- Rifugio Tita Secchi → Rifugio Valdaione
- Rifugio Valdaione → Hotel Locanda Bonardi
- Hotel Locanda Bonardi → Vaghezza
- Vaghezza → Lodrino
- Lodrino → Passate Brutte
- Passate Brute → Lumezzane → Brescia
- Brescia → Bergamo
- Bergamo
- Rückflug
Vorbereitung
Im Grunde wollte ich dieses Jahr mal was anderes im Sommer unternehmen, als immer nur Alpen. Die schönen Touren, die am Meer enden, hatte ich alle schon gemacht und eigentlich könnte ich mal mein Boot in Skandinavien spazieren führen oder die Sierra Nevada in Spanien umrunden. Für beides hatte ich mit unverbindlicher Planung begonnen.
Dann sehe ich, daß der Rother-Verlag dieses Jahr gleich zwei neue Führer für Alpenüberquerungen herausgebracht hat: "L1 von Garmisch nach Brescia" und "Bodensee - Gardasee". Ich weiß sehr zu schätzen, wenn ich Wanderungen losgehfertig präsentiert bekomme, weil mir das einen Haufen eigener Recherchen erspart. Vorfreude ist zwar die schönste Freude, aber Routenplanung am Computer ist es nicht. So habe ich mir gleich beide Führer gekauft.
Gehen werde ich dieses Jahr den L1. Das ist in gewisser Weise ein alter Bekannter. Der Weg war schon 1989 ausgekundschaftet worden und der Streckenverlauf ist auf alpenquerung.info beschrieben. Ich hatte mir den schon mal angesehen, aber mir war nicht klar, ob der Weg nach so langer Zeit noch gangbar ist. Christian K. Rupp hat mir diese Recherche abgenommen.
Der Weg führt längere Zeit über 3000 Meter als die bisherigen Routen. Auch ein Gletscher muß gequert werden, der allerdings als unproblematisch beschrieben wird. Nach den Webcams im Gebirge zu urteilen, gibt es dieses Jahr viel Schnee im Gebirge, der sich vermutlich noch lange halten wird. Ich starte deshalb erst Mitte Juli. Die Hinfahrt erfolgt mit dem Zug, zurück fliege ich von Bergamo.

Dieses Jahr bin ich sogar Alpenvereinsmitglied, und zwar im Bergbund Würzburg. Bisher hatte mich von einer Mitgliedschaft im Alpenverein die ungenügende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit durch ebendiesen abgehalten. Es ist natürlich jedermanns Privatsache, ob er sich als Herrenmensch fühlt, oder an was er glaubt. Wenn allerdings Alpenvereinsmitglieder aus dieser Zeit als "Berghelden" verehrt werden, interessiert es mich schon, wie sie zum Nationalsozialismus standen.
Der Bergbund wurde während der Nazizeit verboten und verfolgt. Wenn die sich also heute mit dem Alpenverein arrangiert haben, kann ich das auch. Über die christliche Ausrichtung des Vereins schaue ich mal hinweg.
Zufällig hat der Bergbund Würzburg mit die niedrigsten Mitgliedsbeiträge aller Vereine: 51€. Davon werden mir dieses Jahr noch 40€ durch den Deutschen Olympischen Sportbund e.V. ("DOSB") gesponsert.
Anreise
Mein Zug startet früh um 6 Uhr von Dresden. Weil es am Tag der Buchung auf der Bahn-Webseite nicht funktionierte, längere Umsteigezeiten vorzugeben, habe ich einen Anschluß von nur 10 Minuten in Augsburg. Wenn ich den verpasse, geht es eine Stunde später weiter. Wenn alles gut geht, bin ich 15 Uhr in Garmisch und will auf jeden Fall noch losgehen. Vielleicht schaffe ich die komplette erste Etappe bis zum Kreuzeckhaus oder ich mache unterwegs Halt.
Das war eine zu optimistische Annahme. Bis Erfurt ging noch alles gut, dann war die Strecke nach München zwischen Bamberg und Nürnberg wegen eines Unfalls und die Strecke zwischen Nürnberg und München wegen Oberleitungsschaden gesperrt. Mein nächster Zug ging von Augsburg, wo ich aktuell nicht vorbeikomme, weil zwei Umleitungen genommen werden. Ich fahre erst mal nach München. Von dort kann man mit Regionalbahn, Ersatzverkehr und weiterer Regionalbahn nach Garmisch gelangen. Aktuell ist im Süden von München das meiste wegen Unwetter gesperrt, aber diese Strecke scheint seit Mittag wieder zu funktionieren. Es bleibt spannend.
Gegen 13 Uhr dann die Durchsage, daß der Zug in Nürnberg endet und wegen der Wetterlage kein Zug zwischen Nürnberg und München mehr fährt. Der Blick aus dem Fenster zeigt Sonnenschein mit lockeren Quellwolken, die vereinzelten Windräder stehen still. Wetter Online zeigt für München strahlenden Sonnenschein. Was ist da unten wohl los? Laut DB-App gibt einen Zug um 14:28 Uhr, der noch fährt.
Mit einer halben Stunde Verspätung fährt dieser Zug tatsächlich ab. Dafür haben sich meine weiterführenden Verbindungen nach Garmisch in Luft aufgelöst. Wegen Unwetterschäden fährt nichts mehr nach Traubing. Nachdem ich die lange Schlange am Infopunkt durchlaufen habe, bekomme ich einen Zettel mit einer Verbindung über Innsbruck und Mittenwald in die Hand gedrückt. Das hatte ich auch schon auf der Bahn-Webseite gesehen, schien mir aber zu absurd, um das tatsächlich zu machen. Fast zwei Stunden Fahrt nach Österreich und zwei Stunden wieder zurück. Nachdem auch noch die Verbindungen nach Tutzing am späten Abend abgesagt wurden, sehe ich ein, daß ich ansonsten wohl in München stranden werde, und darauf habe ich am allerwenigsten Lust. Ich steige in den Innsbrucker Zug.



In Garmisch habe ich mir ein Zimmer im Atlas Posthotel gebucht. Wenn nicht noch mehr schief geht, bin ich 22 Uhr im Ort.
Mit 7 Stunden Verspätung habe ich es tatsächlich noch heute nach Garmisch geschafft! Ich komme in einem winzigen Verschlag unter dem Dach unter. An wenigen Stellen kann ich sogar aufrecht stehen. Vielleicht sollten sie bei der Buchung die Körpergröße abfragen? Außen ist die Luft auf 15 Grad abgekühlt, im Zimmer sind immer noch über dreißig Grad. Bei Regen kann man die Dachluke nicht öffnen und es gibt keinerlei Luftaustausch. Ich fürchte, zu ersticken, und schlafe schlecht. In einer Regenpause öffne ich kurz die Luke.

Garmisch ↣ Kreuzeckhaus
K km 9, L 9 km, H 950 m, R 10 m, U 710 m, O 1650 m
Einen meiner vier Reservetage habe ich also schon verloren. Für heute plane ich das, was ich gestern vorhatte.
Das Frühstück war sehr vielfältig. Danach versuche ich noch etwas zu ruhen, werde aber von Solarmodul-Installateuren gestört, die über das Dach trampeln und mir durch die Dachluken im Zimmer und Bad bei meinen Verrichtungen zuschauen. Eine Kreissäge zum Kürzen der Profile ist direkt über meinem Bett aufgebaut. Trotzdem nutze ich die Zeit bis zum Check Out 11 Uhr noch voll aus, um nicht schon zu Beginn mit dem Blog in Verzug zu geraten.

Gerade als ich losgehen will, legt der Regen noch mal zu. Das ist mir zu viel und ich setze meinen Rucksack gleich wieder ab und stelle mich in der Bar unter.

Kurz vor zwölf gehts endlich los. Im Ort gibt es einige schön bemalte Häuser, denen man den Reichtum der Bewohner ansieht. Noch in der Ebene stehen eine Menge Holz-Scheunen kreuz und quer auf den Wiesen.

Der Aufstieg zum Kreuzeck ist nicht besonders spektakulär. Es geht auf breiten Wirtschaftswegen stetig bergauf. Ich mache kurze Pausen auf trockenen Bänken vor einer Hütte und vor dem Bayernhaus. Manchmal dringt die Sonne durch die Wolken, dann wird es ordentlich heiß.


Schutzhütte
Bayernhaus
Am Kreuzeckhaus habe ich nichts vorbestellt, bekomme trotzdem ein schönes Zweibettzimmer mit Waschbecken. In der Gaststube sitzen die ersten L1-Wanderer, die ich auf dieser Tour treffe, Bettina und Matthias. Ich setze mich zu ihnen und wir unterhalten uns eine Weile. Sie waren ebenfalls vom Bahn-Chaos betroffen und sind mit dem Flixbus nach Garmisch gekommen. Eine Variante, die ich mir auch angesehen hatte, wo ich aber nicht erwartet hatte, noch einen Platz zu bekommen. Der L1 wird ihre erste Langstreckenwanderung.

Am Abend löst sich der Nebel auf und die tiefstehende Sonne bestrahlt die Hütte. Ich suche eine Weile nach dem besten Standort für ein Foto. Die Schlafräume sind über einen Tunnel zu erreichen im linken, dunklen Haus.

Kreuzeckhaus ↣ Reintalangerhütte
K km 19, L 11 km, H 670 m, R 950 m, O 1875 m, U 1369 m
Vom Kreuzeckhaus nehme ich den schwarzen Weg, wie er im Rother Wanderführer beschrieben ist. Endlich ein schöner Wanderweg und keine Schotterpiste. Zudem noch mit Walderdbeeren gesäumt, die von den Strapazen des Anstiegs ablenken.


Seilbahn? Slackline?
Bernadeinhütte
An der Bernadeinhütte nutze ich die Bank im Schatten. Während ich raste, überholt mich die Wandergruppe, in der auch meine Zug-Leidensgefährtin unterwegs ist, mit der ich den Abstecher nach Innsbruck unternommen hatte. Sie gehen bis zur Stuibenhütte und kehren dann um, um auf dem Talweg das Reintal entlang zur Reintalangerhütte zu kommen.

Mein Weg geht noch weiter bergauf und ab der Mauerscharte in der Bergflanke wieder abwärts zur selben Hütte. Am Paß erwartet mich schon die erste Gämse. Wie meistens, ist sie zu weit weg, um sie mit meinem Weitwinkelobjektiv ordentlich aufs Foto zu bannen.

Ich dachte ja, daß der Anstieg die Schwierigkeit ist, aber in Wirklichkeit ist es der lange ausgesetzte Abstieg. Häufig muß ich mich an Griffen herunterlassen oder abstützen. Mir tun bald die Arme weh. Meine beiden Bekanntschaften vom Vorabend überholen mich und ziehen davon.


Schneefeld-Wasser, schön kalt
Weg an der Flanke mit Blick ins Reintal. Morgen geht es über den Sattel in Bildmitte.
Am ersten Schneefeld fülle ich mir nochmal eine Wasserflasche. Trotz der dunklen Streifen im Schnee ist das herablaufende Wasser sehr sauber.
Es ist sehr heiß. In Summe mache ich auf den 4 Kilometern 4 mal Rast. Den Rest gibt mir das zweite Schneefeld, das nicht überquerbar ist und an dessen Rand ich mich ziemlich wackelig vorbeiquetsche. Man hätte auch drunter durch kriechen können, darf dann aber ebenfalls nicht ausrutschen.


Zweites Schneefeld, der Weg kommt von rechts oben.
Am Talboden ist ordentlich was los.
Ich komme erst 19:30 Uhr in der Reintalangerhütte an und erhalte die Auskunft, daß ich übernachten kann. Auch zu essen bekomme ich noch was, vegetarisches Chili mit Reis. Die organisierte Wandergruppe mit meiner Zug-Bekanntschaft ist schon längst eingetroffen. Nach der Essenspause der Crew ist eine Riesenschlange bei der Bestellungsaufnahme entstanden. Ich finde niemanden, bei dem ich das Essen bezahlen kann. Zusammen mit der Übernachtungsrechnung ging das nicht. Zahle ich eben morgen.
Mein Bett ist das vierte von links oben im Winterraum. Es ist schon mit Utensilien belegt, die ich einfach wegräume. Ich kühle mir die Füße im Fluß und als ich wiederkomme, ist es abermals belegt. Ich räume auch das weg und lege mich schlafen.
Nachts um elf weckt uns der Kellner, der unbedingt noch 3 Leute aus dem Winterraum abkassieren muß und jetzt offenbar Zeit hat. Mir knöpft er 24 € für das fleischlose Chili con Carne und ein Bier ab. Ich zahle, bekomme keine Rechnung. Erst später kommt mir der Betrag sehr hoch vor.
Danach lerne ich den kennen, der zwei mal meinen Schlafplatz belegt hatte, weil er nicht wußte, daß die Plätze zugeteilt wurden. Er ist jetzt mein linker Nachbar. Weil er vermutlich seine Ohrstöpsel vergessen hat, versucht er bei jedem Schnarchton die zwei Schnarcher am rechten und linken Ende unserer Achterreihe durch kurzes Hochschnellen aus der Hüfte und fallenlassen zum Schweigen zu bringen. Die Welle läuft durch das Holzgestell und manchmal hat er damit auch Erfolg. Ich hüpfe schlaflos durch die Nacht.

Reintalangerhütte ↣ Steinernes Hüttl
K km 27, L 8 km, H 1000 m, R 440 m, U 1369 m, O 2200 m
Das Frühstück der Hütte erscheint mir ebenfalls unangemessen teuer. Ich gehe ein Stück und frühstücke im Schatten eines großen Findlings.

Viele Menschen quälen sich bei großer Hitze den Berg hinauf, um die Zugspitze zu besteigen. Ich mache im Schatten von Büschen mehrmals kurz Rast. An der Knorrhütte ist ordentlich Trubel. Ich verziehe mich auch hier in den Schatten eines Felsblocks. Wenigstens kann ich mir am ergiebigen Wasserauslaß die Trinkflaschen füllen.


Zugspitzen-Zubringer
Zugspitze mit Bergstation des Lifts
Ab der Knorrhütte weicht mein Weg von der Zugspitzen-Hauptroute ab und es wird ruhiger. Einige Wanderer kommen mir noch aus Österreich entgegen. Vom Talschluß habe ich eine weite Sicht über das Reintal.

Am nächsten Sattel nach dem Gatterl wird es vollends menschenleer, denn ich verlasse auch diesen Zubringer zur Zugspitze. Dafür begrüßen mich die ersten Murmeltiere mit lauten Pfiffen. Einen letzten Anstieg über die Wiese entlang der Bergflanke, und ich habe die Höhenmeter des heutigen Tages geschafft.


Für den Kaltwasser-Sattel läßt der Name schon vermuten, daß es Trinkwasser geben könnte, und in OSM ist eine Quelle eingezeichnet. Das ist im Wesentlichen eine von Kühen zertrampelte feuchte Fläche am Hang. Ich suche das Gelände zehn Minuten ab, bis ich schwach fließendes Wasser finde, das aus Moos austritt. Mit einer Kaffeetüte kann ich Wasser auffangen und in die schon wieder leere Trinkflasche füllen. Es ist klar und kalt und schmeckt gut.
Von Bettina und Matthias weiß ich, daß das Etappenziel Gaistalalm bei ihrem Vorbestellungs-Versuch ausgebucht war. Ich frage also schon am Steinernen Hüttl, ob ich übernachten kann. Obwohl Sonnabend ist, hat niemand auf der Hütte vorbestellt und die Wirtsleute hatte beschlossen, einen Ruhetag einzulegen. Ich darf trotzdem übernachten, bekomme eine Suppe mit Käsebouletten (den richtigen Namen habe ich vergessen) und Spiegelei mit Speck zum Frühstück. Wir drei verbringen den Abend mit viel Musik hören, quatschen und Luftgewehrschießen. Als Einziger im Matratzenlager schlafe ich diese Nacht sehr gut.

Steinernes Hüttl ↣ Wildermieming
K km 45, L 18 km, H 780 m, R 1830 m, O 2055 m, U 870 m
Christian Rupp beschreibt im Rother Wanderführer die Rohrleitung, über die die Pächter der Alm die Milch ins Tal geschickt haben, nachdem sie sie vorher über das eingezogene Telefonkabel ankündigen konnten. Sehr trickreich, aber leider nicht mehr passend für die heutigen Hygienebestimmungen. Die mehr als dreißig Kühe der Alm bleiben heutzutage den ganzen Sommer auf der Weide, ohne Milch zu geben.


Milch- und Telefonleitung
Wieder gibt es Walderdbeeren zu ernten.
Die drei Kilometer bis zum gestrigen Etappenende habe ich heute noch obendrauf. Bis zur Tillfussalm brauche ich zwei Stunden. Den Schlenker zur Gaistalalm spare ich mir und gehe gleich den Gegenhang hoch zur Niederen Munde, der tiefsten Stelle der Mieminger Kette.

Oben mache ich neben einem Latschenfeld Rast, das etwas Schatten spendet. Die Luft ist sehr diesig, so daß ich keine tollen Gipfelfotos machen kann. Auf der Südseite kommt ein heißer Wind den Berg hoch, der Abstieg ist ähnlich schweißtreibend wie der Aufstieg. Lange verliert der Weg keine Höhe, sondern quert nur den Hang. Der Weg nach Mieming ist noch weit. Erst nach der Wendelin-Kapelle geht es wieder abwärts.


Mieming besteht aus vielen Ortsteilen, die auf einem Plateau über dem Inn weit verstreut liegen. Ich will heute im Hotel übernachten und beschließe, in jedem Hotel am Weg nachzufragen. Gleich in Wildermieming habe ich im Landhotel Jäger Erfolg. Das Zimmer mit Frühstück kostet 75 €.

Ich gehe nochmal im bis 21 Uhr offenen Hofladen vorbei, finde aber nichts Brauchbares. Danach komme ich noch rechtzeitig vor Küchenschluß zurück und nehme einen Gemüseteller, der unerwartet lecker ist.
Den Rest des Abends verbringe ich mit Wäsche waschen und leider auch mit Fernsehen. Meine Lieblings-weitgewanderte Frau ist mal wieder in einer Talkshow. Ich warte geduldig, bis sie dran ist. Bisher hatte ich sie nur einmal im Kölner Talk gesehen. Obwohl sie diesmal von zwei anderen Moderatoren interviewt wird, erzählt sie ziemlich das Gleiche, wie beim letzten Mal: Erfolgreiche Geschäftsfrau gewesen, keine Unterhose an beim Wandern, Topf auswaschen mit Urin, ihr minimalistisches Gepäck, etc.. Wenn ich im Fernsehen berichten würde, daß ich 4 Schlüpfer mithabe, würde das vermutlich niemand interessieren. Nur die Ultraleicht-Fetischisten würden aufstöhnen. ;-)
Erst halb eins schalte ich ab und bekomme dadurch wieder zu wenig Schlaf.
Landhotel Jäger ↣ Zelt vor Stamser Alm
K km 60, L 15 km, H 930 m, R 250 m, U 620 m, O 1600 m
Früh regnet es kurz und ich lasse mir Zeit mit dem Aufbruch. Durch Obermieming und Untermieming gelange ich zum Abbruch ins Inntal. Es ist schon wieder brütend heiß.

Nach Überquerung der Hängebrücke treffe ich auf der anderen Seite vor dem SPAR Stams Bettina und Matthias wieder. Wir gehen eine Weile zusammen, bis ich eine Bank im Schatten entdecke, und erst mal verschnaufe. Den ganzen Tag geht es nur breite Schotterwege aufwärts. Auf 1200 Metern in der ersten Linkskehre finde ich eine schöne Stelle, um mal eine Stunde meine Isomatte auszurollen und abzuhängen.

Beim Etappenziel des Rother Wanderführers, der Stamser Alm, hatte ich am Morgen zweimal angerufen und nur eine Anfrage auf dem Anrufbeantworter hinterlassen können. Niemand ruft zurück. In der Originalroute wird die heutige und morgige Etappe an einem Tag begangen, vermutlich, weil die Stamser Alm nur selten mal als Quartier zur Verfügung steht.
Weil ich nicht damit rechne, auf der Alm unterzukommen, und nicht in den Bereich der Weiden kommen möchte, suche ich mir einen Platz im Wald auf etwa 1600 Metern Höhe. Ich baue das Zelt schon 17 Uhr auf und schlafe erst mal eine Runde bis um Neun. Dann mache ich kurz kaltes Abendbrot und schlafe weiter. Der Boden ist wunderbar weich. Einziges Manko ist, daß das Zelt 10 Grad schief steht. Ich muß also ab und zu wieder ein Stück hochrutschen. Solange die Häringe den Zeltboden festhalten, damit er nicht mitrutscht, ist alles in Ordnung.

Zelt vor Stamser Alm ↣ Dortmunder Hütte
K km 73, L 13 km, H 1290 m, R 890 m, U 1600 m, O 2828 m
Der lange Schlaf war sehr erholsam. Ein Kaffee weckt die Lebensgeister und mache mich auf den Weg. Als ich nach 300 Höhenmetern die Stamser Alm erreiche, ist da niemand. Ich habe nur noch wenig Wasser. Auf dem Kirchengelände neben der Alm plätschern zwei Brunnen. Leider stehen an beiden Eingängen große "Privat"-Schilder und die Tore sind mit schweren Ketten abgeschlossen. Sehr unchristlich, einem Wanderer Wasser zu verweigern! Aus dem Brunnen der Alm kommt zunächst kein Wasser. Ich entdecke allerdings den Hahn am Kuhstall, der das Wasser anstellt. Vielen Dank dafür!


Brunnen der Stamser Alm
Kirche und Prälatenhaus sorgfältig abgesperrt
Es ist wieder mal sehr heiß und bevor ich am Bärlehn in die baumlose Region komme, nutze ich die letzten Bäume für eine Pause. Am Silzer Feuerwehrkreuz überholen mich das erste Mal Manuela und Vidar, die ich sofort als L1-Wanderer erkenne.


Ein Hindernis, bei dem ich weder mit Limbo noch mit Wälzer weiterkomme. Ich muß den Rucksack absetzen.
Ah, herrlich! Mal alle viere von sich strecken!
Schon aus großer Entfernung sieht man den Pirchkogel, den Höhepunkt der Etappe, und die Bergkette, die zu ihm führt. Zweihundert Höhenmeter unter dem Gipfel nehme ich noch mal ein Sonnenbad auf der Wiese. Als ich den Kopf drehe, ist der Himmel schwarz. In kürzester Zeit haben sich Gewitterwolken zusammengebraut. Ich packe hastig zusammen und nehme den Gipfel in Angriff. Ich will vor den Blitzen über den Berg sein.

Leider steht das Gipfelkreuz weit unterhalb des Gipfels, so daß es noch viel länger bergauf ging, als gedacht. Endlich bin ich über den Berg und renne bergab. Nach hundert Metern Abstieg erwischt mich das Gewitter.


Fast auf dem Gipfel
Es braut sich was zusammen
Ich kauere mich hinter einen kleinen Felsen und der Hagel setzt ein, bevor ich meine Regenhose überziehen konnte. In wenigen Sekunden ist die Hose durch. Wegen des Windes hatte ich meinen Hut schon vorher am Rucksack verstaut. Die Kapuze der Regenjacke schützt lange nicht so gut vor den Hagel-Einschlägen. Auch der kleine Felsen bietet keinerlei Schutz, im Gegenteil, an ihm fließt jetzt ein Bach herunter und ergießt sich über mich.

Nach 20 Minuten ist das Gröbste vorbei, ich ziehe meine Regenhose über, um nicht auszukühlen, und steige weiter ab. Ab und zu blitzt es noch und ich bemühe mich, die Seil-Sicherung nicht anzufassen.


Links der Stausee Finstertal, rechts die Baustelle für den Speicher Längental
Abzweig zur Dortmunder Hütte
Danach geht der Weg lange über Wiesen. Er ist vorbildlich markiert. Jeder aus dem Gras ragende Stein ist rot-weiß bemalt. Ich finde auch den Stein, auf den der Abzweig zur Dortmunder Hütte gemalt wurde. Erst als man an einer Klippe die Hütte und Kühtai sieht, ist der Spaß vorbei. Eine große Koppel versperrt den Weg, ohne die sonst üblichen Durchlässe. Ich versuche sie erst rechts zu umrunden, dann links.
Die Dortmunder Hütte ist aufs nobelste holzgetäfelt. Ich bekomme ein Bett und muß nicht in ein teureres Hotel in Kühtai ausweichen. In meinem Zimmer treffe ich Bettina und Matthias wieder. Matthias liegt krank darnieder, er hat was mit Magen-Darm.

Zum Abendessen setze ich mich an den Tisch von Manuela und Vidar und wir tauschen noch lange Geschichten über Norwegen und unsere Abenteuer aus.
Dortmunder Hütte ↣ Schweinfurter Hütte
K km 83, L 10 km, H 860 m, R 780 m, U 1949 m, O 2777 m

Nachts regnet es und am Morgen bin ich so langsam, daß ich das erste Gewitter noch in der Hütte aussitze. Der heutige Anstieg ist zweigeteilt: Erst 400 Meter bis zum Speicher Finstertal und später nochmal 400 Meter zur Finstertaler Scharte. Die imposante Staumauer hatte man schon gestern von der anderen Talseite aus gesehen und auch die Bauarbeiten rechts daneben im Längental für ein weiteres Pumpspeicherbecken.

Erbaut von Tausenden Sklaven in jahrelanger Arbeit. In der Mitte der Zugang zur geheimen Grabkammer mit dem Sarkophag von Franz Joseph I. Oder verwechsle ich da etwas?
Ein Wanderweg führt neben der Straße zur Krone der Staumauer. Wenn man die Straße laufen würde, könnte man im Tunnel eine 360-Grad-Kurve drehen. Von der Bank neben der Infotafel habe ich bei schönstem Sonnenschein einen herrlichen Blick über den See.




Weiter geht es entlang des Ufers zum hinteren Ende des Speichers, bevor es im finsteren Tal über viel Schotter nach oben geht. Ein Wanderer überholt mich kurz vor der Scharte. Es sieht schon wieder nach Regen aus und der Wind pfeift recht ungemütlich, so daß ich mich schnell an den Abstieg mache.
Auf halber Strecke zur Schweinfurter Hütte beginnt mich das Gewitter zu jagen. Auf den Grashängen 200 Meter über der Hütte hat es mich eingeholt. Es gießt wie aus Kübeln und auf dem Höhenrücken finde ich keinen Schutz vor Blitzen. Ich laufe so schnell ich kann weiter, in der Hoffnung, daß viele höhere Berge um mich rum sind, die der Blitz vielleicht lieber mag. Die Wege haben sich in braune Bäche verwandelt.

Von oberhalb der Hütte kann ich ins Zwieselbachtal schauen, durch das der Weg morgen weitergeht. Als ich die Hütte erreiche, hat der Regen aufgehört, als wäre nichts gewesen.

Am Abend sitzen wir 5 L1-Wanderer des Tages an einem Tisch zusammen und tauschen uns über unsere Erlebnisse aus. Das ist der letzte Tag, an dem wir alle beieinander sind, denn Manuela will morgen eine Doppeletappe laufen und Vidar nimmt in Gries den Bus nach Sölden, um die knifflige Kletterstelle zu umschiffen.

Schweinfurter Hütte ↣ Winnebachseehütte
K km 94, L 11 km, H 840 m, R 510 m, U 2034 m, O 2868 m
Ich schlafe den Anfang der Nacht gut durch und erwache mit trockener Kehle. Habe ich geschnarcht? Der Rest der Nacht ist mal wieder der Horror. Ich habe das Bett an der Tür abbekommen und es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Ein Kind hat Schnupfen und ist ziemlich verzweifelt. Ich liege lange wach.

Die Wanderung durch das Zwieselbachtal ist sehr schön. Es geht angenehm unsteil das Tal hoch. Schon aus großer Ferne sieht man die kümmerlichen Reste des Zwieselbachferners. Erstaunlich, wie viel Wasser der Bach trotz der kleinen noch vorhandenen Eismenge führt. Lange kann das nicht mehr gehen. Über den umliegenden Bergen bilden sich beständig Wolken, so daß es recht kühl bleibt.

Am Zwieselbachjoch habe ich einen wunderbaren Rundblick auf die umliegenden Berge. Vor mir liegt der Bachfallenferner mit Gletschersee, die beide noch etwas mehr hermachen. Rechts sind auch schöne Gletscher. Zwei unspektakuläre Schneefelder sind zu queren.

Nachdem ich die Steinwüste hinter mir gelassen habe, lege ich mich auf meiner Matte ins Gas und schlafe anderthalb Stunden in der Sonne. Entspannt komme ich an der Winnebachseehütte an, die die bisher schönste Lage hat. Berge, Gletscher, See, Wasserfall, alles da. Ich kann dort übernachten, muß aber noch warten, bis klar ist, wer nicht kommt. Am Ende belege ich alleine eine Doppel-Schlafkoje.

In der Hütte ist eine Jugendgruppe mit drei Lehrern einquartiert. Sie machen eine Dreitagestour. Jugendliche der drei oberen Klassen einer Steinheimer Schule konnten sich dafür bewerben und 17 sind mitgekommen, alle hochmotiviert. Ein Mädchen war mir besonders aufgefallen, weil sie im 8 Grad "warmen" Bergsee ein Bad genommen hatte. Einer der die Gruppe begleitenden Lehrer, mit dem ich mich eine Weile unterhalten hatte, meinte, daß sie auch drei große Steine mitschleppt. Steinheimer bringen eben Steine heim (Der Kalauer ist vom Lehrer). Ich habe vergessen zu fragen, ob es das Steinheim am Steinheimer Becken ist, wo ja mal ein großer Stein vom Himmel gefallen ist. Selber habe ich dieses Jahr noch keinen schönen Stein zum Mitnehmen gefunden. Hier glitzert zwar viel Glimmer in der Sonne, aber kein Stück hat mir wirklich gefallen.
Der Zufall bringt mich beim Abendessen mit einem Dresdener Paar mit Kindern zusammen und dem fünften L1-Wanderer, der den Weg in Doppeletappen gehen will. Nur die schwierige morgige Etappe will er mit Bus umfahren, weil den ganzen Tag Gewitter angekündigt sind.
Winnebachseehütte ↣ Amberger Hütte
K km 104, L 10 km, H 500 m, R 730 m, O 2362 m, U 1691 m
Das Frühstück ist straff durchgetaktet. Jeder mußte seine genaue Zeit zwischen 6:45 Uhr und 7:30 angeben. Ich erscheine unausgeschlafen.
Im Abstieg nach Gries versperren einige Kühe den schmalen Weg. Ich will sie in einem Meter Entfernung umgehen, rutsche auf einem glatten Stein aus und falle auf den Hintern. Mutter und Kalb neben mir sind von meinem Sturz mit lautem Getöse unbeeindruckt. An der letzten Kuh drücke ich mich einfach nur vorbei. Der Hintern tut nur kurz weh, aber ich habe mir die Hand verstaucht. Mal sehen, wie sich das entwickelt.
Den Abstecher in den Ort nehme ich nicht mit und versuche nur am Ortsrand, meinen bis dahin geschriebenen Bericht hochzuladen. Im dritten Anlauf klappt das auch.
Beim Aufstieg zur Amberger Hütte beginnt es zu gewittern. Ich suche unter drei Fichten Schutz und bleibe über eine Stunde trocken, während viele Wanderer an mir vorbei laufen. Dann wird es mir zu langweilig und ich gehe im leichten Regen weiter. Wenigstens blitzt es nicht mehr.

Auf der Hütte angelangt, komme ich im Seminarraum unter. Eine lange Seite des Raums nimmt eine Kletterwand ein. Cool, aber Kleiderhaken wären praktischer. ;-)
Bettina und Matthias sind schon hier, sie sind gestern mit Manuela bis hier gelaufen und haben einen Ruhetag eingelegt. Als ich ankomme, haben sie gerade einen total leckeren Kaiserschmarrn vor sich. Ich wische mir in einer Regenpause eine Liegebank trocken und schnuppere noch etwas frische Luft bis der Regen wieder einsetzt.

Amberger Hütte ↣ Längenfeld ↣ Obergurgl
K km 123, L 12 km, H 20 m, R 700 m, O 2136 m, U 1200 m
Heute gibt es die erste große Programmänderung. Statt über das Attekarjöchl nach Sölden zu gehen, steige ich wieder ab nach Gries und nehme den Bus von Längenfeld das Ötztal entlang bis nach Obergurgl.
Mein rechtes Handgelenk war über Nacht angeschwollen und schmerzte. Schon gestern konnte ich den Wanderstock nicht in der rechten Hand halten. Heute sollte es eigentlich eine längere Kletterpassage am Atterkarjöchl geben. Dazu müßte ich mich wahrscheinlich mit beiden Händen festhalten können. Außerdem sind ab 12 Uhr Gewitter angesagt, da will ich nicht in Drahtsicherungen hängen. Und 1000 Höhenmeter Aufstieg bis Mittag schaffe ich auch nicht. Viele gute Gründe, um abzusteigen, trotzdem fühle ich mich mies, als ich den gleichen Weg zurückgehe, den ich gestern gekommen bin. Vielleicht liegt das auch nur am zu reichlichen Frühstück.


Klamm
Scheunen
Als ich Längenfeld erreiche, fährt in einer Minute ein Bus nach Obergurgl. Ich nehme den, ohne groß nachzudenken, und buche mir im Bus in Obergurgl ein Quartier. So durchquere ich den schrecklichen Touristenort Sölden so schnell wie möglich und muß das nicht zu Fuß tun. Mit Angeboten wie Tabledance kann ich gerade nichts anfangen. Als ich in Obergurgl ankomme, regnet es, so daß die Vorhersage nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Von Gewittern höre ich allerdings nichts.

In der "Alpenresidenz am Mühlbach" werde ich begrüßt mit "Schön, daß Sie sich für ein Souterrain-Zimmer entschieden haben". Das habe ich nicht. Für eine bewußte Entscheidung für ein Souterrain-Zimmer hätte ich wissen müssen, daß es sich um ein solches handelt. Bei Booking.com ist lediglich von "Budget Einzelzimmer" die Rede. Ich mag es nicht, verarscht und verhöhnt zu werden, deshalb gibt es von mir für diese Unterkunft 0 von egal wie viel Sternen.
Hätten sie diese Information vor der Buchung angegeben, hätte ich mich vielleicht trotzdem dafür entschieden, denn das Zimmer ist mit 49 € das billigste im Ort, oder auch nicht. Immerhin hat es ein Fenster auf einen Lichtschacht, auf dessen Boden allerlei Gewürm herumkrabbelt, was ich deshalb lieber geschlossen halte. Es gibt nur schlechten WLAN-Empfang.

Der Ort Obergurgl ist ebenfalls eine riesige Bettenburg, aber ruhiger und nicht so marktschreierisch wie Sölden.
Der Norwegische Wetterdienst sagt vorher, daß morgen die Gewitterneigung auf der Ramolhütte geringer sein soll, als Anfang nächster Woche, deshalb könnte ich es morgen da hoch probieren. Auch Bergfex.at spricht von einer kurzen Warmfront.

Obergurgl ↣ Vent
K km 138, L 15 km, H 1290 m, R 1300 m, U 1907 m, O 3189 m
Der Tag beginnt sonnig. Ich komme erst gegen acht Uhr los und reihe mich in die Schlange ein, die den Hang hinauf zum Ramolhaus zieht. Die Hütte sieht man schon von weitem auf dem Felsen thronen. Sehr fies, wenn man nicht weiß, wie weit das noch ist. Unterwegs hat man die ganze Zeit tolle Ausblicke auf Gletscher.


Bis zum Ramolhaus ist es noch weit und hoch.
Gletscher
Oben ist es zwar sonnig, aber auch eiskalt und windig. Nur ein Mann trinkt sein Bier vor der Hütte, alle anderen haben sich nach drinnen verkrochen. Ich mache nur schnell ein Panorama, dann gehe ich weiter zum Ramoljöchel. Wenn ich bis Mittag hierher gekommen bin, schaffe ich es auch nach Vent. Ich will vermeiden, bei schlechtem Wetter auf einer Hütte festzusitzen.

Der Weg zum Jöchel ist sehr gut ausgebaut mit aus Blöcken gelegten Treppen, Stahlbügeln und Seilgeländern. Das muß eine Menge Arbeit gemacht haben. Oben gibt es einen grandiosen Ausblick auf die Gletscher zu beiden Seiten des Passes. Es ist immer noch sehr kalt und windig, deshalb mache ich mich bald an den Abstieg.

Der zieht sich lange über Blockfelder, ohne daß ich an Höhe verliere. Danach wird lange eine Bergflanke auf einem Wiesenpfad gequert. Erst kurz vor Vent geht es 900 Meter am Stück in Serpentinen runter.


Endlose Steinwüste
Hier geht es endlich den Hang runter.
Unten suche ich mir ein Hotel und kann im Dorfladen bis 18 Uhr noch was einkaufen. Vent gefällt mir ganz gut. Es gibt zwar auch hier viele Hotels, aber auch so was wie einen Dorfkern.

Vent ↣ Hochjoch-Hospiz
K km 145, L 8 km, H 530 m, R 30 m, U 1907 m, O 2413 m
Gerade als ich aus dem Hotel trete, beginnt es zu regnen. Eine blöde Entscheidung, mein gemütliches Hotelbett zu verlassen. Stattdessen stelle ich mich gleich beim nächsten Hotel unter und warte, daß es aufhört. Ich hatte gestern kein Blog geschrieben, das hole ich jetzt nach. 9:30 Uhr ist das erste Gewitter vorbei und ich mache mich auf den Weg.

Ziel für heute ist der Talweg zur Schönen Aussicht Hütte. Im Führer die Variante V11.2. Von dort will ich morgen zum Biwak auf dem Taschenjöchl. Die Überschreitung des Saykogels, als höchster Berg der Route, habe ich abgewählt. Schon im Tal stürmt es mir genug.
Der Beginn des Wegs ist sehr unterhaltsam. Verschiedene Künstler haben aus den Steinen am Wegesrand kleine Kunstwerke geschaffen mit teilweise sehr seltsamen Namen, die ungewohnte Assoziationen auslösen. Gefällt mir.






Es folgt das ehemalige Gipfelkreuz der Wildspitze, des höchsten Gipfels Nordtirols, das 1933 auf den Berg geschleppt und 2010 durch ein neues Kreuz ersetzt wurde. Es scheint immerhin schon aus Edelstahl zu bestehen, der erst 1912 patentiert wurde. Ich hatte die Verwendung von Edelstahl erst für unwahrscheinlich gehalten, aber es gibt historische Fotos, wo dieses Kreuz auf dem Berg steht.

Danach geht der Weg eine Weile oberhalb der Rofen-Ache entlang, die sich eine spektakuläre Klamm gegraben hat. Auch heute ist der Weg sehr gut ausgebaut und gesichert. Es regnet leicht und die erste Pause mache ich auf einer Bank unter einem Felsvorsprung.


Am Hochjoch-Hospiz sitze ich in der Gaststube einen kurzen Regenschauer aus. Für einen Moment klart es auf und ich schultere den Rucksack, bereit weitergehen. Wieder draußen habe ich plötzlich keine Lust mehr. Ich frage nach einer Übernachtung und bekomme ein hübsches kleines Zweimannzimmer. Dazu lasse ich mich mit Halbpension verwöhnen. Die Schöne Aussicht läuft ja nicht weg.

Nach zwei Stunden ausruhen schaue ich in der Gaststube nach, ob L1-Wanderer anwesend sind. Vermutlich nicht, oder sie haben sich gut versteckt. Ich setze mich ans Fenster und lese Wanderführer. Zum Abendessen kommen noch zwei E5-Wanderer an meinen Tisch, Eugen aus München und Elise aus Nantes. Sie sind im Hospiz, weil die regulären E5-Hütten ausgebucht waren. Wir sitzen noch eine Weile beim Bier und unterhalten uns auf Englisch.
Hochjoch-Hospiz ↣ Taschenjöchl
K km 162, L 17 km, H 1410 m, R 1030 m, O 2842 m, U 2011 m
Ich schlafe eigentlich gut, nur mein Bett und das im Nachbarraum knarzen bei jeder Bewegung. Gegen 4 Uhr geht ein Gewitter mit kirschgroßen Hagelkörnern runter. Eine Frau berichtet beim Frühstück davon, daß sie wach wurde, weil das Eis vom Fensterbrett in ihr Bett gesprungen ist. Früh sieht der Wetterbericht ganz anders aus als am Vortag. Statt um 11 Uhr schlecht, soll es um 11 Uhr schön werden. Ich war extra 6 Uhr zum Frühstück aufgestanden. In der Praxis sah es dann noch anders aus, während des Frühstücks hörte der Regen auf und halb acht konnte ich losmarschieren.


Erst mal runter zur Brücke, dann wieder hoch.
Die Schöne Aussicht.
Zuerst das noch fehlende Stück zur Schönen Aussicht Hütte, was noch mal 570 Meter sanft den Hang aufwärtsging. Ich war sehr froh, gestern nicht bis hier gekommen zu sein, denn die Hütte ist eine Großbaustelle. Als ich dort vorbeikomme, mischen sich Baulärm und Schlager aus dem Baustellenradio.


Weiter geht es 800 Meter hinunter nach Kurzras. Der Ort wird von einer riesigen Hotelanlage dominiert. Architektonisch nicht schlecht und ziemlich abwechslungsreich. Im Sommer aber vermutlich trotz Gletscherskibetrieb tote Hose. Ich muß das nicht ausprobieren, denn ich habe noch genug Kraft für die 750 Meter Aufstieg zum Taschenjöchl.


Bis zum Lagaunbach wandert es sich schön durch Wald sanft aufwärts. Leichter Niesel setzt ein, begleitet von entferntem Donner. Nach dem Bach geht es am kahlen Hang im Zickzack nach oben. Der Regen legt zu und als ich ein paar Felsen erreiche, warte ich im Stehen ab, daß das Gewitter weiterzieht.

Ziemlich erschöpft komme ich oben an und freue mich, als ich kurz vor dem Jöchl das Biwak mit offenstehender Tür sehe. Ist schon jemand im Biwak? Passe ich noch rein? Nach 200 Metern habe ich Gewißheit: Die Tür stand nur offen, weil sie der Letzte nicht geschlossen hatte. Niemand weiter ist hier. Außer einem notdürftig mit einer Decke geflicktem zerbrochenen Fenster ist alles in Schuß. Ich bin überglücklich, hier bleiben zu können. Passend zum Moment hat der Regen aufgehört und die Sonne zaubert Regenbögen.


Die Innenausstattung
Regenbögen
Die Einrichtung besteht aus einem Doppelstock-Bettgestell für 4 Leute, Tisch und 4 Bänken. Ich pelle mich aus den nassen Klamotten, ziehe alles an, was ich habe und mache mir das erste Fertiggericht warm, Chicken Tikka Masala, was ich seit Beginn der Tour mit herumschleppe. Danach gehe ich noch auf dem Sattel spazieren, sehe mir die Ruinen der abgebrannten Heilbronner Hütte an (von einem Neubau ist noch nichts zu sehen), und warte auf weitere Gäste. Es kommt niemand.

Taschenjöchl ↣ Schlanders
K km 176, L 14 km, H 0 m, R 2050 m, O 2772 m, U 721 m
Nachts stürmt es und die Hütte ächzt. Vermutlich hat sie schon viele Stürme unbeschadet überstanden, deshalb mache ich mir keine Sorgen. Als ich um sieben Uhr die Tür öffne, schneit es. Liegen bleibt der Schnee auf meiner Höhe nicht, aber die Bergspitzen im Norden sind in frisches Weiß getaucht.

Ich mache erst mal Kaffee und frühstücke und verziehe mich noch mal in den Schlafsack. Von dort aus verfolge ich den Lichtstrahl, der durch das Schlüsselloch auf den Hüttenboden fällt. Nachdem der ein paarmal richtig hell geworden ist, packe ich zusammen und gehe los.

Heute sind nur noch die restlichen 2000 Meter Abstieg der gestrigen Etappe zu bewältigen. Zuerst an wunderschönen Bergseen vorbei über mehrere Wiesenstufen. Der unterste See wird von einer Fischereigenossenschaft bewirtschaftet. Ich sehe keine Fische und frage mich, was für Fische sie ausgesetzt haben und wie sie die wieder herausbekommen?


Waldweg oberhalb der Straße
Was wohl die Stadtverwaltung sagen würde, wenn ich ein paar dieser Riesenmaulwürfe fange und in Dresden aussetze?
Bei der Wahl zwischen Weg 4 und 4b folge ich der 4, weil ich erst später auf die Schotterstraße treffen will und lieber auf schmalem Pfad durch den Wald gehe. Auch die 10 Kilometer Schotterstraße sind nicht so schlimm, wie befürchtet, weil fast immer ein Gras-Randstreifen vorhanden ist. Trotz einiger Pausen bin ich schon um 3 Uhr in Schlanders.

Die Hotelsuche gestaltet sich schwierig. Alles ist sehr teuer. Die Dame in der Touristeninformation telefoniert zwei Pensionen an, bei beiden nimmt niemand ab. Also Hotel. Das billigste laut booking.com ist das Zur Linde mit 114 € pro Nacht. Als ich dort frage, will man 150 €. Ich zeige mein Handy vor und bekomme den booking.com-Preis. Eigentlich wollte ich es ja etwas billiger haben. Ich bleibe zwei Tage und nehme damit meinen ersten Ruhetag.

Das Zimmer bietet außer einem schönen Balkon mit Aussicht auf Garten und Pool nichts Besonderes. Bei Anzahl und Lage der Steckdosen ist man noch auf dem Stand der 60er, als man sich mit seiner Reiseschreibmaschine an den Tisch setzte und einen das Summen elektrischen Stroms nur stören würde. Es gibt eine Steckdose am linken Bett (von dem man den weit rechts stehenden Fernseher schlecht sieht) und zwei am Boden. Nirgends einen Platz, an dem man sitzen, Handy laden und gleichzeitig tippen kann. Der Kühlschrank ist auch nur Attrappe.
Ich mache mich auf den Weg durch die zwei Supermärkte des Ortes und hier wartet das nächste Ärgernis: Es gibt kein gekühltes Bier. Nach den Abendnachrichten schlafe ich schnell beim Blog schreiben ein.
Schlanders
Für den heutigen Tag hatte ich mir die Aufgabe gesetzt, ein kühles Bier zu besorgen, das ich auf dem Balkon genießen wollte. Ich bin gescheitert.
Neben MPreis und Despar soll es noch zwei weitere Supermärkte geben: Einen EUROSPAR an der Hauptstraße Richtung Osten, den Bing zeigt und der nicht existiert. Und einen CONAD, der nicht an der Position ist, die Google zeigt (Bing zeigt die richtige Position). Auch die Öffnungszeiten von Google stimmen nicht, der Laden hat Donnerstag Nachmittag geschlossen. So bleibt es beim Rotwein.



Jeder nicht mit Häusern bebaute Fleck im Ort wird für Obstplantagen genutzt.
Ich begegne zwei solchen Holzbrunnen.
Schlanders ↣ Berggasthof Stallwies
K km 197, L 21 km, H 1830 m (1030 m), R 600 m, U 721 m, O 2396 m
Das Frühstück war sehr vielfältig und gut. 8:45 Uhr gehe ich los. Leider habe ich vergessen, im Hotel meine Wasserflaschen aufzufüllen. Dafür schleppe ich noch viele Reste vom gestrigen Ruhetag mit: unter anderem ein halbes Kilo frische italienische Weintrauben und 300 Gramm Bio-Tomaten. Das wird mich schon mit Wasser versorgen.
1800 Meter, 1800 Meter, diese Zahl bekomme ich nicht aus dem Kopf. Es ist der bisher höchste Aufstieg in einer Etappe. Ich habe vorsichtshalber mal eingeplant, daß ich das nicht schaffe, und irgendwo im Busch biwakiere. Der Aufstieg beginnt mit 500 Höhenmeter auf Asphalt, was mir in diesem Fall ganz gelegen kommt, denn durch den geringen Anstieg und die gute Bodenhaftung kann ich mit normaler Geschwindigkeit laufen. Es geht die ganze Zeit durch hohen Wald im Bergschatten und in meinem dünnen Hemd ist mir recht kalt. Ich nutze den ersten Sonnenflecken am Wegesrand zum Aufwärmen.
An der Stelle, wo der Schotterweg beginnt, überholt mich ein Laster und der Fahrer fragt, ob ich mitfahren will. Natürlich will ich! Es ist viel schöner, den mit wunderbar weißem Marmorkies geschotterten Weg aus der hohen Kanzel des LKW zu sehen, als ihn zu laufen. Der Fahrer holt die von den Kunden besichtigten und gekauften Marmorblöcke aus dem Steinbruch ab. Vier Touren macht er am Tag. Er nimmt öfter mal L1-Wanderer mit und ich frage nach Bettina und Matthias und den Norwegern. Fehlanzeige.


Meine Mitfahrgelegenheit
Marmorsteinbruch mit einigen abholbereiten Blöcken.
Durch die Mitfahrgelegenheit sieht die Lage natürlich viel entspannter aus. 800 Höhenmeter habe ich mir erspart. Dadurch ist der Rest einfach machbar. Ich wandere zur Göslaner Scharte, treffe dort ein paar Tagesausflügler. Die Frau zeigt mir auf ihrem Handy Bilder von Edelweiß, die sie unterwegs aufgenommen hat. Ich habe wie immer nichts gesehen. Immerhin weiß ich jetzt, das Edelweiß nicht wie in den Werbeprospekten A4 groß, sondern im Gegenteil sehr klein ist. Ich muß neu fokussieren.

Danach gehe ich einen sehr schönen Hangweg zum Berggasthof Stallwies. Entlang des Weges sind einige Bänke aufgestellt, von denen man einen großartigen Blick ins Tal hat. Auch Brunnen gibt es einige.

Der Gasthof ist leider ausgebucht, zwei Lagerplätze könnten eventuell frei bleiben, weil die Besteller noch nicht erschienen sind. Der Chef erlaubt mir, auf dem Weg durch die frisch gemähte Wiese zu zelten. Das verspricht eine ruhige Nacht. Ich trinke noch zwei Bier und verziehe mich in mein Zelt.

Berggasthof Stallwies ↣ Marteller Hütte
K km 211, L 14 km, H 1190 m, R 530 m, U 1950 m, O 2610 m
Abends um 9 Uhr weckt mich ein Gewitter und hält mich bis um zehn wach. Die Einschläge sind alle mehr als einen Kilometer entfernt. Ansonsten schlafe ich sehr gut. Ich bin schon früh wach und packe alles zusammen, bevor ich 7:30 zum Frühstück im Gasthof aufbreche. Nur das Zelt lasse ich noch zum trocknen stehen. Mich begeistert die selbstgemachte Birnenmarmelade aus im Tal angebauten, sehr süßen Birnen, auf die die Wirtin zurecht stolz ist.
Die Wanderung führt heute an der Bergflanke auf einem schönen Waldweg entlang. Nach einigem hoch und runter kommen zuerst die Schluderalm und die Rosimalm, beide unbewirtschaftet. 11 Uhr bin ich an der Lyfialm, die gestern eine Übernachtungsalternative gewesen wäre, bei der ich aber sehr spät angekommen wäre.


Der Weg geht oberhalb des Zufritt-Stausees entlang, den man häufig zwischen den Bäumen sieht. Eine Infotafel erklärt die Geschichte des Stausees, der in den 50er Jahren gebaut wurde und spart dabei nicht mit den üblichen Narrativen. Zwei Almen mußten aufgegeben werden, was großes Leid verursachte. So etwas glaube ich erst mal nicht, ohne die persönlichen Schicksale zu kennen. Wenn die Besitzer clever waren, haben sie ihr Bergbauerndasein aufgegeben und sich mit der Abfindung ein neues Leben aufgebaut. Anderenfalls hätten wir vielleicht jetzt zwei aufgegebene Almen mehr.
Die Geschichte der Kühe der zwei Almen ist dagegen schnell erzählt: Sie wurden mit großem Appetit verspeist.
Ein anderer Vorwurf ist, daß der Stausee 1987 das verheerende Hochwasser in Martell verursacht habe. Es gab hier schon immer Hochwasser im Sommer, weil viel warmer Regen eine vermehrte Wasserabgabe der Gletscher erzeugt. Wegen des sich schlagartig entladenden Gletschersees hatte man auch schon 1892 die Hintermarteller Sperre errichtet. An diesen früheren Überschwemmungen war der Stausee nicht schuld, denn es gab ihn noch nicht. An der Überschwemmung des Jahres 1987 ist er natürlich schuld! Dabei ist er nicht etwa gebrochen, sondern nur übergelaufen. Hätte man die Staumauer eben höher bauen müssen!

Die Zufallshütte sieht man schon von Weitem. Als ich dort abkomme, ist davor viel Betrieb, es ist schließlich Wochenende und die Parkplätze am Talschluß sind alle voll.

Ich gehe weiter zur Marteller Hütte, voller Spannung, ob ich dort übernachten darf. Im Lager sind noch Plätze frei, alles in Ordnung. Vom Fenster meines Zimmers sieht man den Fürkeleferner, den ersten Gletscher, den ich morgen queren werde.

Ich habe schon lange keine L1-Wanderer mehr gesehen und auch auf dieser Hütte sind heute keine. Die Hütte ist voll mit Alpinisten. Die große Gruppe bleibt lieber unter sich. An meinem Tisch findet sich spät noch ein Pärchen auf der Durchreise nach Davos ein, die Kurztouren unternehmen. Mit ihnen unterhalte ich mich eine Weile. Zum Abendbrot habe ich als einziger kein Menü bestellt, sondern das Bergsteigeressen, einen großen Teller Bratkartoffeln mit 4 Spiegeleiern und gebratenem Schinkenspeck obendrauf. Sehr lecker und sättigend.

Marteller Hütte ↣ Peio
K km 228, L 17 km, H 500 m, R 1530 m, O 3032 m, U 1579 m
Die Nacht war schrecklich. In den Gepäckboxen des Schlafraums waren jede Menge dicke Decken eingestapelt. Weil ich auf einem der Betten einen dicken Schlafsack sah, legte auch ich meinen dicken Schlafsack heraus, in Erwartung einer frischen Nacht. Leider wollten die anderen im Raum lieber bei geschlossenem Fenster schlafen. Es war heiß und ich lag fast nackt auf dem Schlafsack. Dazu noch das übliche Geschnarche, was mich zu Ohrstöpseln zwang, die mir fast die Ohren sprengten.
Heute also die Gletscheretappe. Mir ist etwas mulmig im Bauch. Wird das mit meinen einfachen Grödeln funktionieren? Beim Abendessen war der ganze Raum voller Gletscherexperten, aber früh geht niemand in meine Richtung, dem ich mich anschließen könnte. Manche hatten auch schon die erste Frühstücksschicht um 4:30 Uhr gewählt. Zu früh für mich.
Von der Hütte aus führt der Weg gerade das Tal hinauf. Als ich den Gletscher erreiche, berührt mich die eisige Hand des Todes. Will sagen, es ist kalt.

Vor dem Gletscher enden die Wegzeichen. Soll ich links den Hang hoch und die Felsnase überklettern? Ich gehe ein Stück zurück, bis ich wieder zwei Markierungen sehe, und entdecke eine dritte, die nach unten zeigt. Also laufe ich auf der vermeintlichen Moräne am Rande des Gletschers entlang. Das ist aber genauso Gletscher, nur mit viel Steinen und Schlamm obendrauf und dazu noch ziemlich steil.


Letzte Markierungen
Gletschertor
Ich ziehe meine Schwedischen Eiszacken über die Schuhe. Nach zehn Schritten reißt am rechten Schuh der Festhaltegummi. Ich hatte die Zacken vor Jahren gebraucht bei eBay gekauft und bisher nie benutzt. Gummi hält eben nicht ewig. Aus einem vorher gefundenen Haargummi bastle ich mir eine Notlösung.


Die Haftung der Zacken auf Eis ist sehr gering. Hinterher bin ich drauf gekommen, woran das lag: Ich hatte die Eiszacken bis in die Mitte des Schuhs geschoben, wo er eine ausgeprägte Brücke hat. Sie haben das Eis also kaum berührt. Besser wäre gewesen, ich hätte sie unter den Fußballen geschnallt.


Nachdem ich im Randbereich des Gletschers immer schwieriger vorankomme, beschließe ich, zu den braunen "Fahrspuren" in der Mitte des Gletschers abzusteigen. Die sind aus der Nähe betrachtet wunderschön! Auf dem klaren Eis liegen scharfkantige rostrote Platten und bilden einen wunderschönen Kontrast. Außerdem läuft es sich darauf hervorragend. Eine Weile nutze ich diese Spuren und umgehe auf ihnen auch einige schmale Gletscherspalten. Leider führen sie nicht dorthin, wo ich hin will. Ich muß sie nach links verlassen, um zur Fürkelescharte zu kommen. Eine Weile laufe ich etwas wackelig über blanken, steinfreien Gletscher. Nur die Schmelzwasserrinnen auf dem Gletscher geben meinen Schuhen etwas Halt.

Nachdem ich mich zu einer Moräne gerettet habe, sehe ich, daß noch ein kleinerer Gletscher zu queren ist. Auch der hat wieder eine Spur aus Steinen drauf, an denen ich mich entlanghangele. Endlich stehe ich wieder auf festem Boden. Noch schnell das Geröllfeld hoch zur Scharte und ich bin sehr erleichtert, das geschafft zu haben. Es bietet sich ein großartiger Ausblick in alle Richtungen. Nur den gerade überquerten Gletscher sieht man nicht in voller Länge, weil er von der Moräne verdeckt wird.


Bis zum Etappenende liegen noch 14 Kilometer Abstieg vor mir. Erstmal am Rifugio Cevedale vorbei, wo sich die Alpinisten nach den erfolgreichen heutigen Touren versammeln. Ich gehe weiter und komme vor der Malga Mare in eine Landschaft, die durch viele kleine Stege über den sich windenden Bach fast Park-Charakter hat. Auch an einigen kleinen Wasserfällen führt der Weg vorbei.




Eine halbe Stunde später zeigt ein Wegweiser einen kleinen Umweg zu einem weiteren Wasserfall an, den ich mir ebenfalls ansehe. Aus der Felswand über dem Weg sind recht frisch große Mengen Gestein herausgebrochen. Ich beeile mich.

Nach der Malga Mare geht es erst mal ohne weiteren Höhenverlust die Bergflanke entlang. Kurz nach der Malga Talè, die einen sehr schönen Rastplatz abgibt, stehen am Weg drei Fernrohre. Da sollte man unbedingt mal durchschauen, es gibt eine Überraschung zu sehen! Danach steht wieder Kunst im Raum beziehungsweise im Wald.


Malga Talè
Fernrohre


Zwei Trichter
Baumhaus
Von einer Aussichtsplattform aus kann man gut das ganze Tal überblicken. Glücklicherweise muß ich nicht noch die 400 Meter bis zum Ort im Talboden hinunter, sondern laufe auf der rechten Talflanke weiter bis zum Bergdorf Peio.


Aussichtsplattform
Peio
Im ersten Hotel, an dem ich vorbeikomme, dem Auberge Centrale, frage ich nach einem Zimmer und bekomme eines mit Halbpension. Das Zimmer ist recht klein und der winzige Fernseher mit ausschließlich italienischen Sendern ist nicht zu gebrauchen, aber der Rest vom Hotel gefällt mir recht gut.

Vor dem Abendessen unternehme ich noch einen Rundgang durchs Dorf. Es ist sehr hübsch, mit vielen alten Holzscheunen, manche unverändert, andere stilvoll umgebaut. Das Abendessen ist sehr gut. Kurz danach falle ich müde ins Bett und schlafe bis früh um sechs durch.

Peio ↣ Rifugio Bozzi
K km 245, L 17 km, H 1350 m, R 450 m, U 1579 m, O 2613 m

Bei Sonnenschein geht es heute immer weiter auf breiten Waldwegen den Hang entlang, mal hoch, mal runter. Erst am Schluß erwartet mich ein knackiger Anstieg. Bis zum Stausee treffe ich nur 3 Frauen mit dem Logo des Nationalparks an ihrer Kleidung, die am Rastplatz anscheinend ein größeres Picknick vorbereiten. Rund um den Stausee sind dafür umso mehr Tagesausflügler unterwegs. Der L1 umrundet den See zu zwei Dritteln, so daß ich viele Ausblicke auf das grüne Naß genießen konnte.


Auf dem Anstieg ins Val Montozzo war ich wieder allein, bis auf einige Mountainbiker, die mir entgegenkamen. Oben angekommen, lege ich mich erst mal ins Gras, um die letzte Sonne für heute zu tanken. Die Löcher in den mehreren Wolkenschichten, die vom Wind in verschiedene Richtung getragen werden, werden immer kleiner.
Sobald man die Steilstufe als Einstieg ins Tal überwunden hatte, konnte man den weiteren Wegverlauf bis zum Paß fast komplett übersehen. Der Weg über den Paß ist so einfach wie noch nie bisher.


In der Ferne die sanfte Rundung des Forcellina di Montozzo
Blick zurück ins Val Montozzo
Am Paß und weiter unten sind Stellungen und Schützengräben aus der Zeit des Ersten Weltkriegs erhalten, als um das Tal erbittert gekämpft wurde. Auch das Rifugio Bozzi ist ein altes Militärgebäude.




Als ich im Rifugio nach Quartier frage, bin ich der einzige Gast. Später kommt noch ein italienisches Paar dazu, die für länger auf der Hütte einquartiert sind, und wir essen zu dritt Abendbrot. Nicht ganz so lecker, wie gestern im Hotel, aber nahrhaft ist es auch. Abends umgibt dichter Nebel das Haus. Empfang gibt es keinen, so daß ich nicht weiß, wie sich das morgen entwickeln wird.

Rifugio Bozzi ↣ Temù
K km 261, L 16 km, H 170 m, R 1490 m, O 2478 m, U 1155 m
Ich habe einen Schlafsaal für mich alleine, niemand schnarcht und ich bin trotzdem um 3 Uhr wach und kann nicht wieder einschlafen. Es ist zu warm. Ich öffne ein Fenster und löse damit einigen Lärm aus. Eine Tür schlägt wegen des Luftzugs mit lautem Knall zu und die Dachbalken ziehen sich zusammen und ächzen dabei laut. Vermutlich habe ich alle wachgemacht. Durch das offene Fenster höre ich es regnen.
Um sieben frühstücke ich und lasse mir von der Wirtin den aktuellen Wetterbericht zeigen. Er ist deutlich besser als mein eigner von vor zwei Tagen. Gegen 8 Uhr soll der Regen aufhören. Der tut auch wie geheißen. 8:45 Uhr gehe ich los und wenige Meter unter der Hütte löst sich der Nebel vorerst auf. Später wird er wieder dicht und ich laufe wie in einer Blase. Der Weg ist meist grasüberwachsen und erst kürzlich gemäht, das Gefälle gering, so daß ich schnell vorankomme.

Weiter unten im Wald waren einige Nadelbäume entwurzelt worden, worum sich schon ein Waldarbeiter kümmerte. Das letzte Stück Weg nach Temù am Hang entlang war wegen Baumfällarbeiten gesperrt, weshalb ich die Straße im Tal gehen mußte.
Temù hat drei Hotels gleich nebeneinander. Sie liegen alle an der Hauptstraße und sind vermutlich dem gleichen Verkehrslärm ausgesetzt. Die Preise unterscheiden sich erheblich. Auf der Webseite des Hotels Adamello finde ich ein Angebot 90 € für zwei Tage, übersehe aber, daß das nicht im Juli und August gilt. Ich bekomme trotzdem einen Rabatt und zahle nur 100 statt 120 € für zwei Tage.
Die Dielen knarzen stark und der Fernseher ist unbrauchbar, aber sonst ist das Zimmer ganz nett. Das Fenster geht zur Seite heraus, da bekomme ich nur den halben Lärm von der Straße ab. Das Internet ist super.

Temù
Heute ist Ruhetag. Ich wasche Wäsche, schaue mitgebrachte Serien und liege auf der faulen Haut. Kurz sehe ich mir den Ort an und statte den beiden Supermärkten einen Besuch ab (in beiden gibt es gekühltes Bier). Bloß nicht zu viel kaufen, das ich morgen mit hochschleppen muß!

Das Wetter ist durchwachsen, manchmal scheint die Sonne, meist liegen die Gipfel im Nebel. Morgen will ich zum letzten großen Abschnitt durch die Adamello-Gruppe aufbrechen. Laut Führer nimmt die Schwierigkeit zu. Gleich 4 schwarze Etappen versammeln sich hier. Aber erst mal muß ich 1500 Meter hochsteigen.
Temù ↣ Rifugio Garibaldi
K km 275, L 14 km, H 1510 m, R 120 m, U 1155 m, O 2549 m
Frühstück gab es erst ab acht. Außer für eine alte Dame und mich war für niemanden gedeckt. Das Hotel schien fast leer zu sein. Am Buffet gab es ausschließlich Süßes, ich nehme zwei gefüllte Croissants, Obst und Joghurt.


Das Val d´Avio sieht nicht besonders einladend aus.
Weiter oben wird es besser: der Lago d´Avio.
Der Aufstieg geht erst über Forstwege durch dichten Wald. Ein Verbindungsweg, der ein kurzes Stück abwärtsgeht, ist durch einige umgestürzte Bäume blockiert, über die ich mühsam drüber krabble. Bis zum ersten Stausee geht es dann auf einer alten Asphaltstraße und danach wieder auf Kieswegen.

Für den Tag sind Gewitter angesagt. Ich bin froh, daß es erst anfängt, zu nieseln, als ich fast angekommen bin. Kurz stelle ich mich am Tempel für die beim Bau der Staudämme umgekommenen Arbeiter unter, das Etappenziel schon in Sichtweite.

Im Rifugio Garibaldi ist noch Platz für mich. Ich bekomme ein 8-Betten-Zimmer an einer Ecke des Hauses ganz für mich allein. Das könnte eine ruhige Nacht geben. Ansonsten ist noch eine etwa 20-köpfige Gruppe Wanderer im Haus und ein Tisch ist von jungen Leuten belegt, die ich für Kletterer halte. Beim Abendessen werde ich an einen Einzeltisch platziert. Ich bin der Einzige im Raum, der kein Italienisch spricht. Nach dem Essen ziehe ich mich rasch auf mein Zimmer zurück und schaue eine Folge Andor.

Rifugio Garibaldi ↣ Rifugio Gnutti
K km 287, L 12 km, H 820 m, R 1200 m, O 2882 m, U 2166 m
Das Frühstück ist vollends auf italienischen Standard abgerutscht. Zwieback, Weißbrot, ein winziges Stück Butter und Marmelade. Aber der Kaffee ist gut. 7:30 Uhr gehe ich los.

Zuerst führt mich der L1 über einen kleinen Paß zum Lago Pantano, den ich gestern schon eine ganze Weile gesehen hatte. Am Ostufer stehen neben den Gebäuden der Kraftwerksgesellschaft noch einige bizarre Ruinen. Viele Häuser sind auch schon wieder abgerissen worden, erhalten sind nur die rechteckigen Grundrisse. Die Gegend muß mal von Menschen gewimmelt haben. Vermutlich im Krieg? Heute tönt nur aus dem Haus am Staudamm Radiomusik, wahrscheinlich vom einzigen verbliebenen Kraftwerksmitarbeiter.


Staumauer des Lago Pantano
Grundrisse früherer Gebäude
Der Autor des Wanderführers ist ein großer Fan von Blockfeldern aus diesem besonders griffigen Granit des Adamello-Massivs. Fünf Minuten leichtfüßiges über ein waagerechtes Blockfeld tänzeln sind ja ganz nett, aber stundenlanges Quälen hoch und runter durch Blockfelder ist nicht mein Ding. Viel zu kraftraubend.


Blockfeld
Kletterstellen mag ich schon eher.

Über den Tag begegne ich so vielen Gämsen wie noch nie. Auch einen Hirsch sehe ich in der Ferne. Zumindest halte ich ihn dafür, er ist größer als Gämsen und hat eine weitere Fluchtdistanz. Die Gämsen lassen sich von mir nicht besonders stören. 10 Meter Abstand reicht ihnen.


Nachdem ich den normalen Paß Paso Premassone mit 2923 Metern bezwungen hatte, beschert mir der Tag noch einen Paß, zu dem man nach unten absteigt, um ihn zu überqueren, und danach wieder bergauf geht, den Passo del Gatto. Er führt in ein Nebental durch eine unbezwingbar erscheinende Steilwand. Wie so häufig hat man das Problem gelöst, indem man einen Weg hineingeschlagen hat.


Auf diesen Talboden will ich gelangen.
Abwärts gehts.


Der tiefste Punkt = der Paß
Und wieder hoch
Erschöpft komme ich am Rifugio Gnutti an. Für die mit 6:45 Stunden angegebene Wanderung habe ich zehn gebraucht. Hier teile ich mir einen großen Schlafsaal mit einer Familie. Abends beginnt es zu nieseln.

Rifugio Gnutti ↣ Rifugio Prudenzini
K km 280, L 5 km, H 690 m, R 630 m, U 2166 m, O 2858 m
Die Nacht war erholsam. Draußen regnet es immer noch, es geht starker Wind mit 9°C. Sehr ungemütlich. Eine Bergsteigergruppe, die um 7 Uhr forsch aufgebrochen war, ist nach fünf Minuten wieder zurück und spielt lieber Karten. Im Laufe des Vormittags soll der Regen aufhören.

Gegen neun ist der Regen vorbei. Einer der Hüttenbesatzung fragt mich, ob er mich beim Rifugio Prudenzini telefonisch anmelden soll. Ich stimme zu und damit ist es beschlossene Sache, daß ich die heutige Etappe teilen werde. Die im Rother-Führer angegebene 8:30-Stunden-Etappe durch viel Block-Gelände mit 1300 Höhenmetern hoch und runter würde ich wahrscheinlich nicht mal in 12 Stunden schaffen.


Steinfeld
Ausstieg zum Paß
Die 700 Höhenmeter auf den Passo del Miller gehe ich ohne Pause durch. Mittags bin ich oben und genieße die wunderbare Aussicht. Wer war wohl dieser Miller, nachdem hier alles benannt ist? Klingt nicht italienisch.

Danach geht es mit den riesigen Granitblöcken erst richtig los. Bis 14 Uhr habe ich erst 500 Meter vom Paß weg geschafft. Die Suche, wie ich von einem Block auf den nächsten komme, kostet viel Kraft und Zeit. Mein Problem ist, daß ich mit dem schweren Rucksack nicht springen kann, weder hoch noch runter. Stattdessen muß ich mir Stellen suchen, wo ich mit den Armen hangeln, stützen oder ziehen kann. Die Wegmarkierung ist übrigens exzellent. Fehlt nicht viel und die vielen rot-weißen Striche bilden eine Schritt-für-Schritt-Anleitung.


Genug Fotos von Blockfeldern, es gibt auch Blümchen. Zum Beispiel die Teufelskralle.
Lago Salarno, die Staumauer ist eigentlich überflüssig.
Ich finde auch meinen Stein der Reise. Normalerweise hat der fast weiße Granit hier schwarze Einsprengsel. Dieser hier besteht fast nur aus Einsprengseln in kaum Granit-Matrix. Sehr hübsch, aber noch ein Kilo mehr.
Selbst wenn man die Hütte schon von weitem sieht, ist der Weg dahin noch mit vielen Schikanen gespickt. Es scheint, man wird extra noch auf einen Umweg geleitet, weil man noch nicht alle Blockfelder gesehen hat. Auch der Weg durch die Wiesenabschnitte ist wegen vielen Steinen, starker Erosion und sumpfigen Stellen sehr beschwerlich.

Der Anruf war angekommen, ich kann im Rifugio Prudenzini übernachten. Ich teile den Schlafsaal mit 6 Bergsteigern. Die Ausnutzung des Raums für Schlafplätze ist die effektivste, die ich bisher gesehen habe. Es gibt keinerlei Platz für persönliche Sachen. Dafür bilden 4 verbundene Betten nebeneinander und drei Etagen übereinander eine kompakte Box, zu besteigen über die Stirnseite. In die Raumecken paßten noch drei weitere dreistöckige Betten. Ich, als immer unangemeldet erscheinender, will mal nicht klagen, denn ich bin ab und zu auf ein extra Bett angewiesen.


Beim Abendessen war ich wieder mal der einzige nicht italienisch sprechende Gast. Leider verstanden meine Sitznachbarn weder englisch noch deutsch. Während vom Hüttenpersonal fast jeder etwas englisch spricht, ist das bei den Gästen meist nicht der Fall. Von meinen Zimmerbewohnern kann einer sogar etwas deutsch. Der Tisch spendiert mir ein Bier und wir intonieren "Ein Prosit, ein Prosit auf die Gemütlichkeit". Ich sehne mich nach etwas Konversation.
Rifugio Prudenzini ↣ Rifugio Lissone
K km 288, L 8 km, H 610 m, R 820 m, O 2810 m, U 2020 m
Am Morgen habe ich komplett wolkenfreien Himmel. Nur der Mond unterbricht das gleichmäßige Blau. Heute nun der zweite Teil der Etappe. Ich komme schon 8 Uhr los. Der Aufstieg zum Poia-Paß ist leichter als der gestrige. Der Anstieg ist geringer und die Blockfelder weniger.

Oben hat jemand ein windgeschütztes Plätzchen nach Süden hin eingerichtet. Ich sitze eine halbe Stunde in der Sonne und die mir entgegenkommenden Wanderer sehen mich nicht.

Auch der Abstieg ist heute leichter als gestern. Die Blöcke sind nicht so groß und manchmal hat eine helfende Hand die Steinplatten sogar waagerecht hingelegt. Zudem wurden viele Holzbohlen verbaut.

Mir kommt ein Einzelgänger mit Lederhut und an den Rucksack geschnalltem Aluminium-Teekessel entgegen. Garantiert kein Alpinist. Leider spricht er kein Englisch. Er steigt später wieder ab und überholt mich, als ich eine Pause mache. Später entdecke ich im Tal ein grünes Zelt und weiß sofort, wem das gehört.

Auf dem Talweg bis zur Hütte ist viel Betrieb, es ist ja Wochenende. Das Tal hinauf peitscht mir ein kalter Wind einige Regentropfen ins Gesicht. Umso bemerkenswerter ist es, daß der Lederhutträger am Fluß mit einem Feuerstahl ein Feuer anbekommt. Ich passiere ihn in einiger Entfernung und habe genug Zeit, ihm dabei zuzusehen.


Links der Talschluss.
Rechts der Ausgang des Tals.
Kurz vor dem Rifugio Lissone liegt ein Biohof, auf dem einige Tiere frei herumlaufen. Sie haben Schweine und recht hübsche Hühner. Danach grasen am Weg einige neugierige Ziegen.


Biohof
Ziegen
Das Rifugio Citta di Lissone liegt an einem kleinen Stausee. Am Abfluß des Sees ist eine Apparatur in Betrieb, die mitgespülte Äste aus dem See fischen soll. Während ich ihr zuschaue, kommt leider kein Ast vorbei.


Astfischer
Rifugio Citta di Lissone
Auch in dieser Hütte komme ich unter, in einem Schlafsaal mit 6 jungen Mädels und 4 älteren Herren. L1-Wanderer sind keine anwesend. Vielleicht gibt es auch gar keine mehr.

Rifugio Lissone ↣ Rifugio Maria e Franco
K km 299, L 11 km, H 1230 m, R 690 m, O 2600 m, U 1600 m

Die letzten Tage in der Adamellogruppe folgte der L1 einfach dem italienischen Höhenwanderweg A1, der sich von Süd nach Nord durch das Gebirge zieht. Die Herren Losse, die Erfinder des L1, sind für die heutige Etappe vom Sentiero Adamello abgewichen, weil er ihnen etwas zu gefährlich erschien. Im Rother Wanderführer ist der Adamello-Weg 1 als schwarze Etappe beschrieben, mit einigen heiklen Stellen. Damit ich nicht so lange in Blockfeldern hängen bleibe, gehe ich das Original über den Passo Forcel Rosso und danach die Wege 245 und 242. Der Paß ist sogar noch etwas höher, aber der Weg geht die Ostflanke und nicht den Grat der Bergkette entlang.


Am Morgen zeigt mir der Hüttenwirt, welcher Paß das ist. Sieht oben steil aus. Ich beginne den Aufstieg einigermaßen bequem über einen nur moderat steilen Wiesenrücken, in dem ein Steinweg nach oben mäandert. Erst als der endet, wird es mühsamer, im nachrutschenden Geröll weiter Höhe zu gewinnen. Der Weg sucht die besten Stellen mal rechts, mal links. Ich bleibe links am Felsen, weil ich mich da mit Armunterstützung hochhangeln kann. Oben erwartet mich die Sonne und ein großartiger Ausblick. Natürlich auch die üblichen Weltkriegs-Hinterlassenschaften. Ich chille ein wenig, bevor ich weitergehe.

Kurz nach dem Paß kommt mal eine ungesicherte Querung am steilen Hang, die man durch leichte Kletterei überwinden muß. Danach überquert man eine wiesenbewachsene Rippe, von deren Ende man einen herrlichen Rundblick auf alle Berge rundum hat. Wenn ich nicht gerade erst gerastet hätte, wäre das ein guter Platz dafür gewesen.


Rückblick auf die Kletterstelle
Lago di Malga Bissina, bis da runter muß ich glücklicherweise nicht.
Der weitere Weg steigt an der Bergflanke erst sanft ab, bis eine Alm erreicht ist, und dann wieder leicht an. Am Lago di Campo, der ein sehr schöner See ist, ohne die Schmutzränder der zur Energiegewinnung genutzten Stauseen, beginnt noch mal ein steilerer Anstieg, bis ich am Passo di Campo wieder die Route des Rother Wanderführers, den Weg 1 erreiche.

Kurz bevor ich auf den Weg komme, sehe ich einen einzelnen Wanderer mit Helm am Rucksack, aber ohne Seil in meine Richtung gehen. Das wird wohl kein Italiener sein, denn die können nicht alleine wandern, weil sie dann niemanden haben, mit dem sie unentwegt wichtige Informationen (auch duplex) austauschen können. Wenig später überhole ich ihn und höre ihn auf deutsch telefonieren. Die Abendunterhaltung ist gesichert!


Bis zur Hütte ist es noch ein 200 Meter Anstieg durch einen vom Gletscher rund geschliffenen Kessel und danach zum Paß. Der Weg macht einige unvermutete Kehren und man gelangt von oberhalb des Passes zur Hütte gleich dahinter. Das Rifugio Maria e Franco ist sehr archaisch, aber gemütlich. In der Original-Wegbeschreibung hieß es noch "Rifugio Brescia".


Richard, so heißt der einzelne Wanderer, ist ebenfalls auf dem L1 unterwegs, aber wesentlich schneller als ich. Er hat 11 Tage nach mir begonnen und will auch morgen eine Doppeletappe gehen. Meine Begleiter vom Anfang der Tour hat er noch nicht getroffen, kann er ja auch nicht, denn die laufen bestimmt vor mir. Wir unterhalten uns den ganzen Abend gut über unsere Wanderabenteuer.
Für einen Moment entsteht Aufruhr in der Hütte, als sich ein Steinbock am Paß blicken läßt. Schöne Tiere. Leider ist er Einzelgänger.

Rifugio Maria e Franco ↣ Rifugio Tita Secchi
K km 310, L 11 km, H 590 m, R 790 m, U 2270 m, O 2633 m
Obwohl das Zimmer gut belegt war, schnarcht diesmal niemand. Ich kann auf Ohrstöpsel verzichten und bin einigermaßen ausgeschlafen. Wir konnten Frühstück um 6 oder 6:30 Uhr wählen. Alle entscheiden sich für das spätere.
Ich verabschiede mich von Richard, der vorauseilt. Es ist eiskalt, die Sonne ist noch hinter dem Höhenzug verborgen und es bläst ein schneidender Wind. Heute kommen zum ersten Mal meine Handschuhe zum Einsatz.

Am Abend hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, die halbe nächste Etappe dranzuhängen, um im Bivacco del Pastore Rasmul übernachten zu können. Am Ende siegt die Bequemlichkeit und ich bleibe bei der Etappe des Wanderführers.

Auch die heutige Etappe geht nach Abstieg vom Passo Brescia die ganze Zeit an einer Bergflanke entlang. Man kann fast den ganzen Tag lang wieder zu diesem Paß zurückblicken, mit dem markanten Pfeiler drauf und dem hellen Fleck darunter, in dem sich der mit Ketten gesicherte Abschnitt befindet.

Statt Tempo zu machen, lege ich mich öfter mal auf die Wiese und genieße die Sonne, die durch dünne Schleierwolken hindurch scheint. Manchmal weht ein kalter Wind den Hang entlang, so daß ich am Schluß den Hut wegpacke, damit ich ihn nicht mit der Hand festhalten muß.

Erst kurz vor dem Passo Blumone verliert man die bisherige Strecke aus den Augen. Der Paß beeindruckt durch die Strukturen, die der verwitterte Granit bildet. Aus manchen Blickwinkeln sieht das aus wie die Reste einer gemauerten Festung.


Granit-Erosion
Felsblock
Das Rifugio Tita Secchi ist wesentlich nobler ausgestattet, als das letzte. Ich bekomme einen Schlafsaal unter dem Dach für mich allein. Nach dem Abendessen bin ich hundemüde und ziehe mich gleich in mein Schlafgemach zurück.


Rifugio Tita Secchi ↣ Rifugio Valdaione
K km 326, L 16 km, H 370 m, R 1120 m, O 2367 m, U 1510 m
Heute gibt es statt des üblichen Zwiebacks frische Baguettes zum Frühstück. Auch die Kekse sind lecker.
Die Etappe beginnt, wie die gestrige geendet hat, mit lustigen Felsformationen, wie einem glatten Obelisken am Felsgrat oder einem steinernen Kuh-Götzen, der ins Tal blickt.


Steinkuh
Obelisk am Horizont
Ich nehme Abschied vom Hochgebirge. Mir kommen Scharen von Wanderern entgegen, zuerst vom Parkplatz, später auch auf meinem Weg. Mir passiert es zwei mal, daß ich mich irgendwo zur Rast niederlassen will und just 10 Meter vor mir kommt eine lärmende Gruppe an, mit derselben Idee. Erst nach dem Rifugio Tassara wird es menschenleer.

Ich bummle etwas herum und fotografiere die Blumen am Wegesrand, soweit es meine Kamera zuläßt. Leider ist es ein Riesen-Akt, die Kamera automatisch auf nahe Gegenstände fokussieren zu lassen. Sobald auch nur in einem der Autofokusfelder eine Kante des Hintergrunds sichtbar ist, wird auf den scharf gestellt, egal ob in allen anderen Feldern ein scharfer Vordergrund zu sehen ist. Keine Ahnung, was sich die Ingenieure dabei gedacht haben. Ich kenne nicht eine Bildsituation, wo ich das Objekt im Vordergrund unscharf haben möchte. Das bedeutet, daß ich viele Versuche brauche, bis ich mal eine Blume nah abgelichtet habe. Meist gebe ich irgendwann auf.
Bevor ihr mich für einen Botaniker haltet: Die Namen sind alle ergoogled.


Glockenblumen
Fetthennen-Steinbrech


Alpen-Hornkraut
Alpenmassliebchen


Alpendost
Tolle Schichtung
Die Biwaks sind auch in Italien nicht besonders dicht gesät. Ich hätte mir deshalb das Bivacco Rasmuli schon gerne angesehen. Andererseits ist erst ein Drittel der Etappe geschafft und heute Abend habe ich ja noch ein Biwak in Aussicht. Ich lese das zwar im Führer so, daß das Biwak neben der Hütte Valdaione nur im Winter auf hat, aber vielleicht irre ich mich ja. Nach einigem Zögern gehe ich weiter.

Das Rifugio Tassara ist durch Autotouristen gut besucht. Auch darum mache ich einen Bogen. Es geht weglos über die Wiese links an der Kirche vorbei. Spärliche Holzpfosten markieren die Richtung.

Nach dem Stück Wiese und dem Abstieg in einer sehr erodierten Rinne, gehe ich auf einer Straße mit unterschiedlichsten Belägen. Von Asphalt, Schotter bis zu kunstvollem Pflaster ist alles dabei.

Die letzten 3 Kilometer vor der Hütte werden noch mal abenteuerlich. Es geht auf schmalem Pfad durch Wald einen Hang entlang. Besondere Schwierigkeit sind einige Cluster umgestürzter Bäume, die man am Hang weiträumig umgehen muß. Ein Einheimischer, der mir entgegenkommt, warnt mich vor, aber wenn er das Hindernis überwinden konnte, werde ich es auch können.


Das Rifugio ist hübsch und einsam. Noch besser ist aber, daß das Biwak offen ist. Ich sehe im Hüttenbuch, daß es Richard gestern bis hier geschafft hat und daß auch Bettina und Matthias vor drei Tagen hier waren. Von Manuela bekomme ich eine E-Mail, daß sie und Vidar es schon letzten Freitag wie geplant geschafft haben. Bin ich wieder mal der Letzte. Der Handy-Empfang ist immer noch zu schlecht, um das Blog hochzuladen. Morgen im Hotel sollte das endlich klappen.


Das Biwak ist komplett eingerichtet, mit Geschirr, Gasherd, Holzofen usw. Auf dem Tisch stehen sogar zwei angebrochene Flaschen Rotwein, Grappa und anderer Alkohol. Den Rotwein in der halbvollen Flasche habe ich mal gekostet, kann man trinken. Der Rest in der fast leeren Flasche riecht schon nach Essig.

Ich gehe meinen ganzen bis hierher mitgeschleppten Kram durch, mache mir einen Kaffee, esse dazu die Walnuß-Schnittchen von Sapori, koche Schokopudding und noch einen Tee. In zwei meiner Vorratskisten habe ich seit drei Wochen nicht mehr hineingesehen. Besonders interessiert mich, ob die Butter noch gut ist, die ich seit Dresden mithabe. Das werde ich morgen beim Frühstück herausfinden. Die erste sehr heiße Woche hatte sie auf jeden Fall erstaunlich gut durchgehalten, aber vier?
Zum Abendessen habe ich mich im Rifugio angemeldet. Ich nehme Nudeln mit Hackfleisch und dazu ein Bier. Außer mir ist niemand weiter da. Gestern waren im Biwak laut Hüttenbuch 5 oder 6 Leute, da wird es richtig eng geworden sein. Mal sehen, ob heute noch jemand kommt.


Die Pilzausbeute der Großmutter.
Mein Abendbrot.
Rifugio Valdaione ↣ Hotel Locanda Bonardi
K km 339, L 13 km, H 850 m, R 710 m, U 1500 m, O 2086 m
Am Abend kam niemand mehr ins Biwak und ich habe von um neun bis früh um sieben traumhaft geschlafen. Ich frühstücke in der Sonne am Tisch vor der Hütte. Es gibt Baguettes vom Abendbrot mit immer noch frischer Butter und Marmelade zu einem Milchkaffee, bis auf die Baguettes alles noch von zu Hause. Sehr lecker!


Es geht heute auf schönem Waldweg zuerst bergauf. An der Malga Figarolo wundere ich mich wieder über die Steinhaufen auf der Wiese. Andernorts baut man aus den gesammelten Steinen Mauern oder Terrassen. Vielleicht war hier das Konzept des Privatbesitzes an Boden noch unbekannt, so daß man keinen Sinn im Bau von Mauern sah?

Ab der Malga Silter di Campolungo wird der Weg wieder sehr abenteuerlich. Jemand hat Baum-Domino gespielt und viele Bäume liegen auf dem Weg. Man muß nicht nur eine Umgehungsmöglichkeit finden, sondern auch den Weg selbst, wo er unter den Bäumen wieder zum Vorschein kommt. Am besten man sucht nach frischen Fußspuren, die die Vorgänger hinterlassen haben, die das Problem auch irgendwie lösen mußten. Eine dieser Umleitungen ist bestimmt 200 Meter lang!


Baum auf Weg
Waldbruch


Bei der Unterlage muß man sich nicht wundern, daß er umgekippt ist, sondern warum er so lange stand!
Umgehungspfad
Als Nächstes geht es zur Malga Mai. Wie im Buch erwähnt ist der Einstieg von der Wiese in den Wald schwer zu finden (der Wegweiser zeigt zu weit nach rechts). Wenn man ihn hat, muß man sofort wieder einen umgestürzten Baum umgehen. Weiter oben ist schon mal jemand mit einer Säge durchgegangen und der Weg wird einfacher.

Auf der Hochebene mache ich unter einem Baum Rast und beobachte, wie ein Angler den Bach entlang geht und ab und zu die Angel in den Bach stippt und sofort einen Fisch herausholt. Sie sind alle zu klein und landen wieder im Bach. Noch mehr Angler sitzen um den Ravenola-See herum.


Schnell-Angler
Laghi di Ravenola
Zum Paß Dasdana hin werden die Wege wieder breiter. Leider hängt an der Spitze des Berges eine Wolke, so daß alles im Nebel verschwindet.
Im Hotel Locanda Bonardi ist noch ein Zimmer unter dem Dach frei. Ich nehme Halbpension, weil kein Laden zur Selbstverpflegung in der Nähe ist. In der Lounge wird Hardrock gespielt, vermutlich weil die Klientel eher Biker sind. Auch in so einem eher teuren Hotel gibt es im Fernsehen keinen einzigen nicht-italienischen Kanal. Ich bleibe also von Informationen aus der Außenwelt abgeschnitten, aber vielleicht ist das auch gut so.

Hotel Locanda Bonardi ↣ Vaghezza
K km 359, L 20 km, H 490 m, R 1090 m, O 1754 m, U 1160 m
Zum Frühstück gibt es mal wieder Wurst und Käse, nicht immer nur Süßkram. Zwar nur jeweils eine Sorte, aber immerhin. Es scheint die Sonne, aber die Berge im Süden haben Nebelkappen auf. Außerdem ist es sehr diesig, mit Fernsicht ist nicht zu rechnen. Ich spare mir den Abstecher auf den Dosso Alto, der als kompliziert beschrieben ist.

Kurz bevor ich den Passo Maniva erreiche, komme ich an einem Tunneleingang vorbei, vor dem ein PKW geparkt ist. Ein Mann winkt mich in den Tunnel. Es ist einer der Bunker, mit denen man im Ersten Weltkrieg den Paß kontrolliert hat. Die Gänge waren verschüttet, bis eine Arbeitsgemeinschaft sie wieder ausgegraben hat. Sie haben darin ein kleines Museum eingerichtet, mit einem original ausgestatteten Wachraum und einigen Militärgegenständen. Vom Tunnel aus sind zwei Maschinengewehrstellungen zu erreichen. Der Mann, Angelo, bringt gerade eine Tafel zur Dokumentation der Ausgrabung im Tunnel an. Er führt mich herum und zeigt mir alles. Obwohl er nur italienisch spricht, hat er eine so prägnante Gestik, das ich alles verstehe.


Passo Maniva, ein Touristenmagnet mit riesigem Parkplatz
Bunkereingang
Am Passo delle Portole ist immer noch das Seil zwischen zwei Felsen über den Weg gespannt, das auch im Wanderführer abgebildet ist. Eine junge Frau trainiert darauf. Trotz einiger spektakulärer Stürze in die Seilsicherung schafft sie es auf die andere Seite.


Mal in perfekter Balance,
dann wieder läßt sie sich hängen.
An diesem Paß bleibt auch ein Großteil der Tagesausflügler zurück. Am Passo di Paio bin ich dann ganz allein. Fast den ganzen Tag geht es einen wunderbaren Höhenweg entlang, mit wenig auf und ab und ohne Hindernisse. Lediglich für die Gesteinsart gibt es Punktabzug. Es ist Kalkstein, der an einigen Stellen schon speckig und rutschig geworden ist. Das bedeutet auch, daß ich kein Wasser finden werde und mir den Liter Hotelwasser gut einteilen muß. Ich habe Glück, daß am Passo Pezzeda Mattina noch etwas Wasser aus einem Rohr fließt, und fülle mir noch die andere Wasserflasche.


Hangweg
Wasserrohr
Der Aufstieg zum Monte Ario ist nochmal anstrengend. Trotz Dunstglocke über den Bergen hat man eine gute Sicht in alle Richtungen. Das Hotel, von dem ich gestartet bin, ist immer noch zu sehen und auf der anderen Seite die Malga Croce, in der ein Biwak eingerichtet ist. Dort will ich heute nächtigen.

Ich liebe ja Biwaks, nicht zuletzt, weil ich das ganze Equipment dafür mit rumschleppe. Beim Anblick der Alm mit den vielen Kühen drauf bin ich skeptisch. Wo soll da das Biwak sein? Es ist das eine Ende vom Stall. Innen sieht der Raum genauso aus, wie im Wanderführer. Es gibt kein Wasser, aber das wußte ich. Ich hab noch anderthalb Liter. In der Absicht, mich vor der Hütte auszuruhen, stelle ich Bank und Stuhl auf die kleine Grasfläche vor der Tür. Ziegen und Truthähne besuchen mich. Leider ist es noch viel zu heiß und sehr aggressive Fliegen belästigen mich. Der Senior sitzt gegenüber im Schatten des Haupthauses und sieht mir zu.




Ich fliehe zurück in den dunklen Raum. Im Hüttenbuch finde ich den Eintrag von Christian Rupp, dem Autor des Wanderführers, vom 22.8.2021. Seitdem war niemand mehr hier, der sich als L1-Wanderer zu erkennen gegeben hat. Ich schreibe mich als zweiter L1-Wanderer ins Buch ein. Die meisten Besucher kommen als Tagesausflügler von Vaghezza und im Winter. Da stellt sich das Hitze- und Fliegenproblem nicht so.
Nach zwei Stunden vermute ich, daß ich einen Koller erleiden werde, wenn ich mir das vielstimmige Gebimmel die ganze Nacht anhören muß. Ich rufe die Pferde-Ranch in Vaghezza an, ob sie noch ein Zimmer frei haben. Die Frau am Telefon sagt mir, daß sie kein Englisch versteht, und läßt mich ansonsten nicht zu Wort kommen. Sie textet mich zu und irgendwann verstehe ich auf Italienisch "sechs, sieben, acht". Das könnte die Uhrzeit sein, wann ich ankomme. Ich sage "sette" und gehe davon aus, daß ich unterkommen werde. In Windeseile packe ich alles zusammen, räume Bank und Stuhl wieder in die Hütte und eile davon, nicht ohne dem Bauern noch nett zuzuwinken.
Die Blumen des heutigen Tages sind:


Wiesen-Flockenblume
Fransen-Nelke


Schwarzwurzel
Weißwurz
In der Ranch bekomme ich ein Bett, was zu essen und für den nächsten Tag ein Frühstück. Die Luft riecht gut, weil Pferdestall und Übernachtungshaus weit auseinanderliegen. Ich bin sehr glücklich über meine Entscheidung.

Vaghezza ↣ Lodrino
K km 369, L 10 km, H 600 m, R 1040 m, O 1300 m, U 725 m
Die letzten Etappen im Rother-Führer weichen von der originalen Route ab, weil es vermutlich über die Jahre ein paar Änderungen bei den Übernachtungsmöglichkeiten gegeben hat. Für heute lasse ich das Schicksal würfeln. Entweder ich bekomme am Sonnabend noch eine Unterkunft im BB Isola Verde, dann wird es eine sehr kurze Etappe, oder ich laufe noch ein Stück der morgigen Etappe und übernachte im Zelt. Den Monte Palo werde ich auf jeden Fall umgehen. Es ist zwar lobenswert, daß sich Christian im Wanderführer auch für die letzten Etappen noch attraktive Ziele herausgesucht hat, aber ich will den Weg nur noch zu Ende bringen.
Gipfelpanoramen werden generell überbewertet. Uns Menschen fehlt schlicht das Organ, mit dem wir eine Rundumsicht wahrnehmen können. Genauso kann ich mich hinsetzen und eine Weile in eine Richtung schauen und später nochmal an anderer Stelle rasten und woandershin blicken. Anders bei Kühen oder Pferden, die könnten eine Gipfelaussicht wirklich genießen.
Es verspricht ein heißer Tag zu werden. Ein Mann zeigt mir am Morgen einen Weg, wie ich einfach auf den Track komme, ohne erst wieder in den Ort absteigen zu müssen. Danach geht es auf schmalen Pfaden eine Hügelkette entlang. Außer einem Vater mit seinem Sohn treffe ich trotz Wochenende niemanden.


Seilbahnen am Monte Palo.
Lodrino
Die Würfel sind gefallen: das BB Isola Verde ist voll. Aber die Wirtin verrät mir, daß im Ort ein Hotel aufgemacht hat, das Albergo Lodrino in der via J. F. Kennedy 6/E. Dort bekomme ich ein Zimmer ohne Frühstück für 60 €. Gleich im Gebäude ist auch ein Restaurant, wo man frühstücken kann. Das Zimmer ist hell, mit schöner Aussicht über das Tal. Leider hört man zumindest am Sonnabendabend lange den Lärm des Restaurants. Es gibt im Hotel auch eine Küche, wenn man sich selber versorgen will.


Zwischenzeitlich hatte ich mir auch schon mal die Busverbindungen angesehen, ob ich eventuell gleich von hier nach Brescia fahren kann. In der Ferienzeit fährt am Sonnabend 7:10 Uhr ein Bus, danach bis Montag nichts mehr. So einfach will mich der L1 nicht davonschleichen lassen!
Nach dem Einchecken gilt meine nächste Sorge der Verpflegung. Der weit sichtbare Despar hat dichtgemacht und der Alimentari ist zu. Wird der am Nachmittag noch mal öffnen? Leider hat er über die Öffnungszeiten einen Zettel mit der Ankündigung seines Urlaubs geklebt. 16 Uhr öffnet der Fleischer und ich kaufe dort alles Nötige außer Wurst, weil er keine Salamis hat. Besonders der Nuß-Rosinen-Stollen stellt sich später als sehr lecker heraus. Eine halbe Stunde später öffnet der Alimentari und ich kaufe den Rest. Obst gab es leider nirgends, so daß eine Tüte Gummibärchen als Ersatz genügen muß.
Das Besondere im Zimmer ist der Fernseher. Zu dem führt nur ein Kabel, das Stromkabel. Man kann deshalb keine Fernsehsender empfangen, nur noch per WLAN Gestreamtes. Leider klappt die Verbindung mit meinen Handys nicht. Glücklicherweise haben einige Gäste ihre Netflix-Profile nicht gelöscht und so schaue ich mir in Italien über das Profil eines französischen Nutzers die neuen Folgen von The Witcher im englischen Original mit deutschen Untertiteln an. Danach noch die ersten vier Folgen von Alternate Carbon. Der Tag ist längst zu Ende, als ich einschlafe.
Lodrino ↣ Passate Brutte
K km 369, L 10 km, H 730 m, R 200 m, O 725 m, U 1352 m
Das Restaurant unten öffnet erst 8:30 Uhr. Zumindest theoretisch, denn sie vergessen, die Absperrleine vor dem Eingang zu entfernen, was einige potentielle Gäste veranlaßt, wieder wegzufahren. Nach einer Viertelstunde geduldigen Wartens steige ich über die Leine und bekomme ein Frühstück. Auch die Hotelrezeption macht für den Check Out angeblich nur zwischen 9:30 und 10 Uhr auf. Es erscheint niemand und ich lasse meinen Schlüssel einfach im Zimmer.
Das alles führt dazu, daß ich erst kurz nach 10 Uhr losgehe. Es ist schon wieder brütend heiß. Diese Etappe ist im Wanderführer mit vielen Schwierigkeiten gespickt: 8:30 Stunden und 20 Kilometer lang, 1480 Höhenmeter Aufstieg, enger Durchlaß, wo ich mit meinem breiten Rucksack nicht durchpasse und Kletterstelle. Ich habe nicht vor, das alles mitzumachen. Seit Tagen folgt der L1 dem Wanderweg 3V, der an manchen Stellen zwei Varianten anbietet, eine obere (alta) und eine untere (bassa). Ich will ausschließlich die bassa benutzen, in der Annahme, daß sie nicht so anstrengend sein wird.
Die bassa-Variante nach Lodrino beginnt zwar angenehm auf schattiger Straße, muß aber trotzdem die gleiche Höhe erreichen. Der Anstieg beginnt nach mehreren Tontauben-Schießständen, an denen eifrig geballert wird. Ein Hauch von Silvester liegt in der Luft.


Der Weg ist nicht unbedingt leicht, es ist ein steiler Anstieg auf grobkörnigem rutschigen Schotter, wie man ihn im Hochgebirge meist kurz vor dem Paß vorfindet. Ich bin vollgepackt mit 3 Litern Wasser, dem restlichen Rotwein von gestern, Käse und anderen Lebensmitteln. Ich brauche inklusive einer längeren Pause zwei Stunden, bis ich den Kamm erreiche, in denen mir das Dauerfeuer im Tal gehörig auf den Keks geht.

Entlang der Bergkette sind einige Hütten und Anlagen errichtet, die für den Fang von Singvögeln genutzt werden. Mehrere Käfige mit Wassernäpfen dienen der Aufbewahrung der gefangenen Tiere.

Als ich an einer der Hütten raste und kurz das Handy ins Gras lege, bemerke ich nach einiger Zeit viele kleine schwarze Punkte, die übers Display wuseln. Ich wische sie mit der Hand ab und das war ein Fehler. Jetzt habe ich wandernde Punkte an der Hand. Zerquetschen kann man sie auch nicht, weil man einen erfolgreich zerquetschten Punkt nicht von einem unterscheiden kann, der nur mal ausruht. Außerdem habe ich nun Punkte an beiden Händen und überall, wo ich in der Zwischenzeit hingefaßt habe. Alles beginnt zu jucken, was natürlich reine Einbildung ist. Ich vermute, daß das Blattläuse von der Linde sind und daß sie mir schon nichts tun werden, und breche schleunigst auf.
Auf der Corna di Sonclino genieße ich nochmal den Rundblick. Das wird einer der Letzten auf dieser Tour sein. Ab da wird es zivilisierter, denn einige Häuser stehen auf dem Kamm.

Weil an ein Erreichen des Zieles bei meinem heutigen Schneckentempo nicht zu denken ist, will ich heute im Zelt übernachten. Die beste Stelle dafür wird sein, wo die bassa-Variante zur Umgehung der kniffligen Kletterstelle mal vom Kamm zur unbewohnten Seite wegschwenkt. Dort verläuft sie auf einem Fußweg. Tatsächlich finde ich auf einem Felssporn einen schönen ebenen Grasfleck und baue schon 17 Uhr mein Zelt auf. Ich kann die Hausbesitzer auf dem Grat mit Gästen feiern hören, aber sehen könnte mich nur jemand, der den Weg entlangwandert. Das ist wie erwartet niemand. Zum Kochen meines letzten Fertiggerichts fehlt mir das Wasser. Von den anfänglich drei Litern ist nur noch einer übrig. Aber Käse, Baguette und Wein ergeben ein vorzügliches Abendbrot.

Passate Brute ↣ Lumezzane ↣ Brescia
K km 377, L 8 km, H 150 m, R 690 m, O 1220 m, U 500 m
Die Nacht war etwas unruhig, weil sich einige große Heuschrecken zu beiden Seiten unter meinem Vorzelt eingefunden hatten und laute Kratzgeräusche verursachten. Ich fürchtete um meinen Zeltstoff und habe die, die ich erwischen konnte, wieder nach draußen expediert.
Zum Frühstück gab es den Rest des Nuß-Rosinen-Kuchens und Wasser. Heute will ich noch auf der L1-Route bis zum Passo del Cavallo gehen und von dort auf dem Wanderweg nach Lumezzane, bis ich auf eine Bushaltestelle stoße, von der aus mich ein Bus nach Brescia bringt. Bevor es abwärtsgeht, nimmt der Weg noch einen letzten Berg über 1200 Meter mit. Wie in den letzten Tagen häufig, ist es manchmal nur ein sehr schmaler und überwachsener Wiesenpfad am steilen Hang, der bis zum Schluß Konzentration verlangt.


Patriotischer Engel
Lumezzane. Seltsam, daß so ein großer Ort kein Hotel hat.
Der Wanderweg kreuzt am Passo del Cavallo eine stark befahrene Hauptstraße. Am Wasserspender hinter der Kapelle fülle ich meine Flasche auf und bin fertig mit dem L1. Auf losem Schotter führt ein Weg unterhalb der Straße entlang. Nach 500 Metern rutsche ich auf dem Kies aus und stürze auf das linke Knie. Es ist nur eine Schürfwunde, aber in der Hose klafft ein Riß. Ich ärgere mich, daß mir das ganz zum Schluß noch passiert ist. Wenigstens bin ich nicht abgestürzt, denn ich bin schon ganz unten.

Die erste Bushaltestelle im ersten der vielen Teilorte von Lumezzane finde ich schnell. Dort kommt aber nur selten mal ein Bus vorbei. Ich hangle mich an den Haltestellen entlang, bis ich in Santa Apollonio den Piazza Paolo IV erreiche. Die meisten Busse fahren die Schleife durch Lumezzane bis hier. In einer Ecke des Platzes entdecke ich einen Brunnen, aus dessen mittlerer Zapfstelle Wasser mit Kohlensäure kommt. Cool! Ich fülle mir zwei Flaschen ab. So einen Brunnen hatte ich auch schon in Lodrino gesehen, aber dort ohne Wasser. Der 12:50 Uhr Bus bringt mich mit einmal umsteigen nach Brescia.

Der Glockenturm der Kirche beeindruckt mich, weil die vier Glocken an allen Seiten auf vier großen Rädern befestigt sind, die man in jeder beliebigen Position stoppen kann. Auf dem Bild steht die Glocke über der Uhr in diesem Moment still! Dadurch ergeben sich ganz neue Möglichkeiten der Klangerzeugung.

Ich will am nächsten Tag mit dem Zug nach Bergamo fahren und dort die letzten zwei Tage verbringen. Deshalb frage ich im Igea Hotel, das gleich am Bahnhof liegt, nach einem Zimmer. Ich bekomme es zwei Euro günstiger als bei booking.com.

Es ist heiß und ich lasse mir Zeit, ehe ich mich am Nachmittag aufmache, die Umgebung zu erkunden. In Ermangelung weiterer L1-Wanderer, mit denen ich meinen Erfolg feiern könnte, will ich das für mich alleine tun. Da habe ich aber die Rechnung ohne die Stadtverwaltung gemacht! In allen Supermärkten sind die Alkoholregale abgesperrt, mit Zetteln dran, daß kein Verkauf nach 14 Uhr erfolgen darf. Man gönnt mir nicht mal mein Ankunfts-Bier. Der Kassierer nimmt es vom Band.
Da haben die Gastronomie-Lobbyisten ganze Arbeit geleistet! In Restaurants gibt es selbstverständlich Alkohol. Die zweitbeste Option wäre, einen Ausschank im Grünen zu finden. Ich suche auf der Karte nach Parks. Die Auswahl ist mager. Auch das Ufer des kleinen Bachs wäre ein guter Platz, aber auch hier gibt es nicht mal Bänke. Es ist immer ein schlechtes Zeichen, wenn die Leute in einer Stadt auf Treppenstufen herumlungern, anstatt auf Bänken zu sitzen. Ich finde nichts und schraube meine Ansprüche weiter herunter. In dem Pulk ausgelassener Leute auf dem zentralen Platz vor der Kirche will ich nicht sitzen, vielleicht eine nette kleine Bar irgendwo? Direkt an der Straße, zu viel Zigarettenqualm, zu häßlich, voll, leer, aber für Abendessen eingedeckt, ich finde nichts. Zum Schluß verkauft mir ein Chinese, der es in seinem Laden mit der Verordnung nicht so genau nimmt, zwei Corona. Ich feiere allein im Hotel.


Brescia ↣ Bergamo
Bevor mein Zug fährt, laufe ich noch etwas planlos umher und entdecke nordöstlich des Bahnhofs einen kleinen Park mit Bänken im Schatten und Wasserspender.

Bergamo gefällt mir sofort. Es hat in der Unterstadt alles, was mir in Brescia gefehlt hat: weite Alleen, viel Grün, viele Bänke im Schatten, Wasserspender, schöne Architektur, Kunst im öffentlichen Raum. Ich checke im Hotel Excelsior San Marco ein, wo ich ein Zimmer schon vor Beginn des Urlaubs für die letzten beiden Nächte gebucht hatte. Fast wäre hier ein Mißklang aufgekommen, denn ich bekomme ein Zimmer im 2. Stock mit Fenster auf die Kondensatoren der Klimaanlagen. Dauerlärm wäre mir hier sicher. Ich frage nach einem besseren Zimmer und bekomme nach einiger Rücksprache eines im 5. Stock mit Balkon und Blick auf die Oberstadt. Viel besser.



Hotelflur
Ausblick vom Zimmer
Es ist christlicher Feiertag und ich suche auf der Karte arabisch oder chinesisch betriebene Läden, die heute offen haben könnten. Im Mini Markt nahe des Bahnhofs kaufe ich mir Bier und Wein und Obst für die nächsten beiden Tage. Nachdem das Überleben gesichert ist, erkunde ich die Oberstadt.




Hier gibt es den Ausschank im Grünen, den ich gestern gesucht hatte.
Gasse in der Oberstadt






Bergamo
Heute will ich unbedingt noch etwas Kunst erleben. In der Stadt ist ein Festival, aber die veranstalten gestern und heute nichts. In der Touristen-Info lasse ich mir was empfehlen. Es gibt ein Museum für moderne Kunst mit einer Ausstellung von VIVIAN SUTeR, von der ich noch nichts gehört habe. Es würde sich anbieten, die brütende Mittagshitze im Museum zu verbringen, also trabe ich 12 Uhr los, ohne mich vorher über die Öffnungszeiten zu informieren.


Brunnen
GAMeC - Das Museum für moderne Kunst.
Leider macht das Museum erst 15 Uhr auf, alle Läden haben auch geschlossen, so daß das ein ziemlich sinnloser Ausflug war. 16 Uhr wage ich einen neuen Anlauf. Als ich den Saal der Sonderausstellung betrete, bin ich regelrecht erschlagen von der Menge der farbenfroh bemalten Leinwände, die da hängen. Dichtgedrängt, kreuz und quer im Raum, über Eck und am Boden. So sieht es aus, wenn ich im Hotelzimmer Wäsche gewaschen habe. ;-)
Im zweiten Raum hängen viele Bilder Rücken an Rücken, mit engen Abständen dazwischen. Ich stehe und staune und kichere in mich hinein. So eine innovative Hängetechnik habe ich noch nicht gesehen. Das war das Geld wert.









In der zweiten Ausstellung sind einige Exponate aus der Sammlung des Museums ausgestellt. Besonders gefallen mir hier die atmenden Kissen, der Farbwebstuhl und der Kandinsky.


Ausatmen
Einatmen


Ich lasse den Tag nochmal mit einem Spaziergang durch die Oberstadt ausklingen.



Rückflug
Um wieder in die Heimat zu kommen, hatte ich keine praktikable Verbindung per Bahn gefunden und mir einen Flug gebucht. Deshalb war ich überhaupt auf Bergamo gekommen. Kurioserweise war bei der Buchung die Businessklasse billiger als Holzklasse mit Gepäck. So kommt es, daß ich das erste Mal in meinem Leben Business Class fliege. Ich gönne mir einen Gin Tonic und einen Keks. Kostet ja nichts. Für einen kurzen Moment sehe ich Alpengipfel, der Rest des Fluges ist bewölkt.

